Wer kennt Lamed Schapiro? Richtig. Die wenigsten Menschen wissen wer Lamed Schapiro war. Er lebte von 1878-1948. Geboren in Rschyschtschiw (in der Nähe von Kyjiw) und gestorben in Los Angeles. Verarmt und nahezu unbekannt. Vielleicht weil sein Werk sich nicht für Musicals über das Schtetl eignet. Seine Texte waren schonungslos und brutal ehrlich. »So war das jüdische Leben im Osten Europas!« schreit er den Lesern entgegen. Und seine Texte tun tatsächlich weh. Die Geschichte unten erschien 1920 erstmals in deutscher Übersetzung. Herausgeber war Menachem Birnbaum und Übersetzer Siegfried Schmitz (1886–1941). Siegfried Schmitz übersetzte zahlreiche Bücher aus dem Jiddischen nachdem er in Wien Klassische Philologie studiert hatte. Er war dort auch als Journalist tätig und ging später nach Mährisch-Ostrau. 1939 wanderte er aus und nahm sich in Jerusalem am 21. März 1941 das Leben. Die Übersetzung von Siegfried Schmitz wird hier präsentiert.
Die Geschichte ist mit איִן דעָר טויטעָר שמאָדט (In der tojter Stadt) überschrieben. Sie beginnt jedoch mit den Worten אין דעֶר מתים-שטאָדט (in der Mesim-Stadt).
»Die Stadt der Toten« von Lamed Schapiro
I
אין דעֶר מתים-שטאָדט In der Totenstadt herrscht stets friedlich-weiche Stille. Die einst Menschen waren und jetzt ihr Gezelt hier aufgeschlagen haben, die haben dort unten in der Stadt der Lebenden nie jene glückliche Ruhe und milde Stille gefühlt, die sie jetzt genießen; auch die Glücklichsten unter ihnen kennen diese gute Stille erst jetzt. So werfen sie denn ihre Körper von sich, wie schwere drückende Kleider und bergen sie unter Grabsteinen. Frei und leicht erheben sich die Seelen aus den Gräbern, schweben glücklich über dem heiligen Ort ihrer ewigen Ruhe und besehen ihr Reich. Ihr Blick aber schweift gern über ihr Reich hinaus.
Wenn er sich nach Norden wendet, ersieht er träumerisch wogende Kornfelder, umgoldet von kosenden Sonnenstrahlen. Im Westen, jenseits der staubigen Landstraße, blinzeln ein paar schläfrige Bauernhäuschen ins Sonnenlicht. Hinter ihnen träumen wieder Felder den Traum ihrer Fruchtbarkeit. Ostwärts wiegt sich am Fuße des zackig-steilen lehmgelben Berghanges das trägtiefe Wasser des Flusses. Sein Gegenufer umzittern schlanke, schwanke Weiden und streben vom Ufer fort dem Gipfel eines Hügels zu. Von der Südseite aber wenden die Seelen unwillig den Blick: denn im Tale breitet sich unter einer grauen Nebeldecke – die Stadt der Lebenden, ihr einstiger Wohnsitz.
Ihre jetzigen Wohnungen stehen in langen Reihen, mit naiver, doch vielfältiger Architektur gebaut, bewacht von hohen und niedrigen Grabsteinen. Über den ganzen Friedhof sind die Totenbäuschen zerstreut; frischaufgeworfene braune Gräber wechseln mit wildumwachsenen altgrünen Erdhügeln; bald stehen sie in geraden Reihen, bald sind sie durcheinander geworfen wie die Würfel eines Knöchelspiels. Tintenbäumchen und Friedhofbirnen recken sich schattend aus dem grünen, blumenbesäten Plan. Lustig und leicht schweben die Seelen ohne Furcht vor Sonne und Tag im weiten umzäunten Friedhofsraum. Manche lustig-dreiste schwebt über den Zaun hinüber ins freie Feld. Mit ihren Flügeln streicht sie sanft über die Köpfe der träumenden Ähren und kehrt mit still-freudigem Lächeln zurück zum Frieden der Totenstadt.
Manchmal kommt ein Lebender in die Totenstadt hinein oder geht nahe am Zaun vorüber. Da verschwinden die Seelen eilends. Und nur der Schauer, der durch die Seele des Lebenden zieht, läßt ihn ahnen, daß die Seelen der Toten hier geweilt. Wenn der alte Dan, der Wächter der Totenruhe, mit Hacke und Schaufel durch sein »Revier« streift – die Schaufäden seiner Arbakanfot laufen wie Herolde ihm voraus –, da verstecken sich die Seelen hinter den Grabsteinen und gucken ungeduldig hervor; sie warten, bis er geht und ihnen Platz macht.
Ein einziges lebendes Wesen scheucht die Seelen nicht fort. Wenn die kleine Bejle (בּײַלקעַ), Dans Enkelin sie ist kaum neun Jahre alt, zwischen den Gräbern herumtollt, dann einen sich die geläuterten Seelen mit den Sonnenstrahlen und dem lichten Windhauch vom Felde her, und alle zusammen streicheln das Kind, spielen mit seinen schwarzen Locken, jagen und haschen und fangen sie, lassen sie los und fassen sie wieder. Und Bejle tollt zwischen den Grabsteinen, tanzt und springt ulnd klatscht in die Hände. Sie spricht etwas und lacht; ihr Lachen klingt durch die Stille wie ein frohhelles Glöckchen in weiter Wüste … Der alte Dan hört ihre Stimme, beugt sich aus dein kleinen Fenster und ruft: »Bejle ! … Bejle ! … Mit wem sprichst du, Kind?…« Sie hört ihn nicht und verschwindet zwischen den Gräbern. Mit finsterem, besorgtem Blick schaut ihr der Großvater nach und seufzt; schmerzlich murmeln seine Lippen: »Kind! Lieb Kind! Wie wird das werden?«
II
Der Mann an der Schwelle des Todes, das Kind an der Schwelle des Lebens – das sind die Hüter der Totenstadt. Dreißig Jahre wohnt schon der alte Dan in dem kleinen Häuschen mit den blinden Fenstern. Dreißig Jahre öffnet er stumm das alte graue Tor unter dem spangrünen Dach und läßt die Toten ein. Doch bis heute hat er noch nie jene leichte Aufregung bezwingen können, die ihn immer erfaßt, wenn die Totengemeinde um ein Mitglied reicher wird.
»Wieder ist einer gestorben ! Es ist ja ganz natürlich, denn so hat Gott die Welt geschaffen; doch …« Und während die Diener Erde über dem Grabe aufschütten, solange die Waisen das Totengebet sagen und die Menge ihnen in einer gewissen Spannung zuhört, solange ist das Gesicht des alten Dan erregt und feierlich. Etwas Bedeutsames ist ja geschehen: ein Mensch ist hingegangen, um Rechnung zu legen. Der Erdhügel wächst und das Volk zerstreut sich. Dann erst geht der Alte nahe zum Grabe, betrachtet es aufmerksam, sieht zu den Grabnachbarn hinüber und wird ruhiger. Ein paar Wochen vergehen; aus dem frischen Hügel ist ein Grabstein gewachsen. Dan verzeichnet ihn in einem Buche und von dem Menschen ist nichts übrig als ein Name … Namen, nur Namen … dreißig Jahre 1 …
Einmal freilich, da ist das Häuschen nicht so leer gewesen! Söhne, Töchter, Schwiegertöchter und Schwiegersöhne waren da.rin. Alles fort, zerronnen wie Wasser I Einige sind tot, andere in Amerika, andere -Gott weiß wo! Nicht gar lang ist’s her, da hat noch Dans Frau gelebt. Da war es doch in dem kleinen Häuschen viel traulicher gewesen als jetzt … Aber vor etwa drei Jahren, als man nach »der« Geschichte die kleine Bejle herbrachte, da ging’s zu Ende mit der Alten. Zwei Monate nur vergingen seit dem Tage und die Alte zog aus der Stube, dorthin unter den alten Birnbaum, der neben dem Zaun steht … Wenn es dem Alten gar zu sehr das Herz abdrückt, da schleicht er sich leise, daß Bejle nichts merke, zum Baum. Er liest, als wäre es zum ersten Mal, die Inschrift auf dem Grabstein: »Frau Malke, Schlojme’s Tochter«. Dann setzt er sich neben das Grab. Im Kopfe drängt sich etwas, – nicht Gedanken, eher närrisches Zeug; und das Herz zittert ein wenig. Einmal merkt der Alte: Neben Malke ist so ein schönes Plätzchen, ein stiller friedlicher Winkel … Doch –_sein Ruheort wird ja dort sein, zwischen den Männern! …
Bevor er vom Grabe geht, streicht er jedesmal mit den Fingern über die Buchstaben des Grabsteines. Dann geht er langsam dem Hause zu …
So wohnt der alte Dan mit Bejle, seinem Enkelkinde. Als sie in die Totenstadt kam, war sie still und scheu und ging wie traumwandelnd umher. Jetzt aber klingt ihr Lachen durch den stillen Ort der Heiligkeit. Sie hat schwarze Locken, und in ihrem blassen· Gesicht leuchten zwei hellblaue Äuglein. »Ein Königskind!« geht es dem Alten durch den Kopf, wenn er sie sieht. Es wird ihm eigen ums Herz vor ihr, als wäre er jener altgetreue Diener im Märchen, dem die hohe Ehre zufiel, eine Prinzessin zu hüten. Der alte Dan hat graue harte Augen und einen bösborstigen Bart. Er weiß es und versucht vor Bejle ein grimmes Gesicht zu machen, wenn er streng sein will. Doch die Kleine fühlt Großvaters gutes Herz und lacht; -sie lacht so freudig hell, daß der alte Dan mit den Augen blinzelt; dann brummt er etwas und seine Finger streicheln ihr seidenweiches Kinderhaar. Doch der alte Dan hat seine liebe Sorge mit dem Kind. »Ich weiß nicht, das Mädel kennt keine Furcht! Da klettert sie schon wieder auf die Bäume! Jetzt springt sie über den Zaun! Hui, da rennt sie zwischen den Gräbern umher; ich versuche es nicht erst, sie einzuholen! Vergebene Mühe! …«
Dort wo der Fluß am Fuß des Hügels fließt, auf dem der Friedhof liegt, ist die Totenstadt nicht umzäunt. Dort stürzt der Abhang jäh zum Flussufer hinab. Dan hat Furcht, jenem Orte auch nur nahe zu kommen. Doch Bejle springt furchtlos den Abhang hinab und wieder zurück und badet und schwimmt lustig im Flusse …
Noch eines beunruhigt den Alten: »Da redet sie mir wieder mit jemandem; jetzt lacht sie gar. Sie ist mit ›ihnen‹ zu vertraut.« Sieht sie sie denn? Es ist kein gutes Zeichen, wenn ein Lebender mit ›ihnen‹ so vertraut ist … Sie ist ein Kind, noch rein von Sünde. Da haben ,sie’ keine Macht über sie. Aber… Jetzt redet sie schon wieder! … Bejle! Mit wem sprichst du dort? … «
Argen Schrecken aber steht der Alte aus, wenn Bejle ruhig sitzt – das kommt wohl nur selten vor – und in Gedanken versinkt. Dann runzelt sich ihre weiße glatte Kinderstirn wie bei einem steinalten Greise. Zwischen den schwarzen schmalen Brauen zeichnet sich eine lange dunkle Furche Und wirft einen Schatten auf das helle Gesichtchen. Und ihre hellen, blauen Augen werden dunkel und finster, – beinahe schwarz wie ein grundlos tiefer Bergsee. Der Alte zittert: er sieht, wie das Kind sich quält, um sich an etwas zu erinnern. Ihr Gesicht wird blaß und alt. So hat ihre Mutter ausgesehen, ja, ihre Mutter – sie ruhe in Frieden! Das Bild seiner Tochter steht lebhaft vor Dans Augen …
„Bejle !« ruft der Alte mit zitternder Stimme »Willst du nicht etwas essen, mein Kind?… «
III
Auf dem Friedhof stehen einige Birnbäume, auf denen kleine, harte Birnen wachsen. Bejle hat großes Vergnügen daran, die herben Holzbirnen zu essen. Keine anderen schmecken ihr so gut.
Noch mehr Freude macht es ihr, einen Ast zu fassen und ihn zu schütteln … Die Birnen hüpfen herab, tanzen um Bejle herum wie Hagelkörner und manch’ schelmisches Birnlein versteckt sich im Grase und ist nicht mehr zu finden, mag’s auch vor Bejles Füßen liegen. Bejles höchste Lust aber ist es, auf den alten Birnbaum zu klettern, der neben Großmutters Grab steht. Sie steigt bis zum höchsten Wipfel, reißt die Birnen von den dichten Zweigen und wirft sie hinab nach rechts und links. Die Welt sieht ganz anders aus, wenn man sie von der Spitze des Baumes besieht. Der Himmel weitet sich. Die Erde wird größer und der Friedhof kleiner. Man kann die Stadt ganz deutlich sehen: sie sieht aus wie ein altes Kleid aus grünen, roten, weißen und vielen schmutzigen Lappen. Der Fluß ist groß und träumt so träge dahin! Wenn Großvater unten vorbeigeht, sieht er so klein .aus! Und die Füße stellt er so eigenartig – es ist zum Lachen! – einen vor den andern und er selbst pendelt in der Mitte …
Dan hört hoch über sich helles Lachen. Erschrocken blickt er empor. Selten gelingt es ihm, mit Bitten Bejle vom Baume zu bringen …
Wo der Abhang des Friedhofs zum Flusse abfällt, wächst eine alte, krumme Weide. Sie hängt über dem Abgrund. Doch sie steht fest; denn mit ihren Wurzelfingern hat sie sich tief in den Lehmboden gegraben und ihre langen, dünnen Finger ineinandergeschlungen. Der Wind wiegt ihre Zweige in liebendem Spiel. Und die Weide träumt in stillem Glück …
Auf dieser Weide sitzt die kleine Bejle gar gern und blickt auf den Fluß. Unten steht am anderen Ufer die dunkelgrüne Fährhütte. An ihren beiden Seiten wiegen sich Kähne und Flöße. Manchmal raucht ein Dampfer vorüber. Bejle guckt neugierig auf das Deck: Da steht eine Bäuerin, in ein rotes Tuch gewickelt … Neben ihr ein Mann in einem runden, steifen Hut, eine Brille auf der Nase. Wieviel verschiedene Menschen es doch auf der Welt gibt; bald grün, bald rot, mit Tüchern und Brillen. Das sind wohl dort gar keine echten Menschen, das ist nur Spielzeug. Wie schön wär’s doch, solch ein Spielzeug zu öffnen und zu sehen, wie es innen aussieht! Da müssen Rädchen und Walzen und Zähne drin sein, wie in Großvaters alter Wanduhr, die einmal herabgefallen ist und seither so krächzt … Sonderbare Geschöpfe, die Menschlein dort und die Uhren …
Manchmal verläßt Bejle den Stamm der Weide, faßt einen Ast und hängt sich mit den •Händen an ihn. Die Weide wiegt sich und murmelt etwas … ja, sie murmelt etwas! … Bejle schwebt leicht und frei. Wenn sie hinabschaut, sieht sie, wie der Fluß ihr entgegenrollt, auf und ab … Dan sah sie einmal so schaukeln. Die Haare standen ihm zu Berge.
So wuchs Bejle auf dem Friedhof heran. Säfte hoben sich vom Boden und flossen in ihre Adern, drangen in ihre Knochen und kräftigten sie. Die Sonne füllte und färbte ihre Wangen, wie sie die Äpfel füllt und färbt.
Blumen blühen und Vögel singen des Sommers Lied. Und die reinen, stillen Seelen der einst so friedlosen Menschen schweben um Bejle und hüten jeden ihrer Schritte; sie flüstern ihr ins Ohr: »Du Kind … Du Mädchen … Mädchen … Kind … «
IV
Im Elul, als auf das heiße, erregte Antlitz des Sommers die ersten Spuren der Müdigkeit traten, da wallte das Leben in der Stadt dort unten stärker auf, brandete an den Hügel mit stürmischen Wellen und ergoß sich in die Stadt der Toten. Vom Morgen bis in die späte Nacht zogen über den Weg, der die Toten mit den Lebenden verbindet, Scharen von Männern, Weibern und Kindern zu Fuß und zu Wagen, bald vom Friedhof, bald zum Friedhof.
Das graue Tor unter dem spangrünen Dach stand breit offen und das Leben strömte durch, das Leben als hungriges Bettlertum und als wohlgenährte Behaglichkeit. Beim Torweg stand eine Gasse von Bettlern und Krüppeln. Gekrümmte Greise. und bleiche Weiber mit. tränenverschwollenen Augen streckten ihre Hände aus, ächzten und murmelten mit scheuen Stimmen.
Manchmal wurden die Stimmen voll, wenn einer mit dem anderen um Gaben stritt. Hart am Tore saßen an zwei langen Tischen Juden mit Tellern und Büchern und Zetteln und Büchsen und schrieben den ganzen Tag.
Von allen Seiten des Friedbofplans, zwischen den Grabsteinen, aus den fernsten Winkeln drang Gebet und Weinen und Schreien empor, langes, wehes, kummervolles Schreien. Menschen stießen es aus, in Weh und Kummer. und Sorge. Die Seelen der Totenstadt erschraken. Von oben war strenges Gebot gekommen, den Friedhof den ganzen Monat hindurch nicht zu verlassen. Nun bargen sie sich in ihren Gräbern und hörten all die Klagen und Sorgen, die alten Leiden und das alte Weh, dem sie längst entrückt waren. Auf Gräbern und Gräsern, auf Menschen und Seelen lag starr und schwer ein zusammengewürfeltes Gemisch von Sonnengold und Menschenstöhnen.
Ebenso wie sich der alte Dan nicht an den Tod gewöhnen konnte, so konnte sich Bejle nicht in das Leben finden. Seit sie beim Großvater wohnte, war sie vielleicht dreimal in der Stadt gewesen. Immer kam sie verstört heim. Wenn man einen neuen Bewohner zur Totenstadt brachte, versteckte sich Bejle zwischen den Gräbern und betrachtete aufmerksam, mit wilder Unruhe das Totengeleit, die Menschen … Sie erschienen ihr alle fremd und fern, wie jene Menschlein auf den Dampfern, die sie von der Weide aus-sah. Es schien ihr, als seien das Menschenfiguren; und keine ganz einfache Bejle war unter ihnen: sie tun so, als ob sie gingen, sprächen und weinten und lachten, doch das ist so mechanisch! … Großvater, der ist ganz anders. Er ist der Großvater, Bejles Großvater. Sie weiß, wie er wirklich ist, ob er nun sich bemüht, böse dreinzuschauen, wenn er froh ist, oder froh zu scheinen, wenn sein Herz schwer ist. Ja, Großvater ist fast wie Bejle, aber die anderen Menschen nicht.
Wenn aber der Elul kam, konnte Bejle keine Ruhe finden. Den ganzen Monat hindurch kochte und schäumte um sie das Leben. Immer und immer kreischten um sie die Rädchen in den sonderbaren Spielzeugen, drehten sich fieberhaft rasch; und die Menschen weinten, murmelten etwas und weinten wieder. In manchem Menschlein verrissen sich die Rädchen ineinander, standen einen Augenblick still ; dann stieß das Menschlein ein ersticktes Stöhnen hervor und fiel wie eine Gliederpuppe vor dem Grabstein nieder … Oft glaubte Bejle das Spiel zu verstehen. Vergessene Bilder und versunkene Klänge tauchten in ihr auf, fern und undeutlich …
Und es gibt keine Ruhe vor ihnen! Wo ein Winkel und ein Hügel ist, da sind sie, und wohin sie kommen, von dort vertreiben sie die lieben guten Seelen und tragen Unruhe in ihren heiligen Frieden. Bejle erschauderte. Erst wenn der Monat um, wenn die Feiertage vergangen waren und der Menschenstrom sich zurück ins Tal ergoß, atmete Bejle frei.
Dann verließen die Seelen der Totenstadt für eine Zeit ihren Ort und schwebten zum Himmel empor. Ein Bangen blieb zurück.
So ist der Herbst da. Er ähnelt dem Großvater; grau und grimmig schaut er drein; doch er ist gut im tiefsten Grunde.
Auf den Friedhof senken sich schwermütige Nebel. Die Bäume werden mager und dürr. Die Weide murmelt, doch ganz anders, ganz anders als früher. Regen und Wind erheben sich. Fort ist der liebe blaue Himmel, fort … •
V
»Großvater, Großvater! Die Seelen kommen aus dem Himmel zurück!« -schreit die kleine Bejle vom Fenster her und stürmt aus der Stube.
Wahrhaftig: die Seelen schweben hernieder. Zart und weiß kommen sie von allen Seiten des Himmels, wiegen sich in der Luft und sinken dann weich auf das Kind; auf ihrem Haar, ihren Brauen und Backen hocken sie fröhlich, raunen ihr schelmisch ein Geheimnis ins Ohr und verschwinden huschend wie ein Lächeln. Und neue kommen, unzählig viele, wie die kleinen Sterne des Himmels. Wie im Rausch tanzt Bejle umher und hascht nach den weißen Blütensternen, die vom Himmel schweben. Dicht und dichter fallen die Flocken, der Boden wird grau, dann licht und endlich deckt ihn eine seidigweiche weiße Decke. Ihre Falten schmiegen sich an die Erde und raunen gütige Worte dem kleinen Kinderfuß zu, der über sie hinwegschreitet.
Und nun gar der Fluß, der liebe Kamerad Bejles! Mit ihm ist sie täglich beisammen; und nun sieht sie, wie er zwischen den weißen Ufern wild seine dunklen Fluten wälzt. Sie sind fast schwarz und blicken grimmig in Ahnung böser Tage der Haft. Kaltschneidender Wind pfeift von Norden her über den Fluß; -und der Fluß wird dunkelblau, zittert vor Kälte erschauernd, biegt sich und krümmt sich und ringt mit der Totenstarre, die seine mächtigen Glieder erfaßt. Immer schwächer wird der ringende Widerstand, schwer und schläfrig. Eines Tages schwimmt ein formloses schmutziggelbes Eisstück auf clem Wasser, still und harmlos. Niemand weiß, woher es gekommen ist … Bald werden es mehr, bald kommen viele auf einmal, schon schwimmt eine ganze Schar Eisstücke zuhauf. Sie schwimmen spielerisch zwischen den Wellen wie Wassergeister. Es knackt und knistert über den Fluß hin. Unter den Schollen, die den Fluß bedecken, reckt sich breit eine große hervor und die kleinen ducken sich kriecherisch vor ihr, machen ihr Platz und drängen sich aneinander …
Der schwere Todeskampf des Flusses verscheucht die Menschen. Die Boote und Flöße verschwinden.
Es wird still. Die große Scholle bleibt stehen, dreht sich langsam und weitet sich, zerschellt die kleinen Schollen und reckt sich ans Ufer. Um sie starren auf allen Seiten spitze Zacken, glasige Scherben von zerbrochenem Eis, ein Schlachtfeld mit zerbrochenen Skeletten. Dann schweben wieder kleine weiße Seelchen nieder, legen sich in gutem Erbarmen um die totstarren Zacken und decken sie. Und dann gibt es keinen Fluß mehr. Graue kurze Tage lächeln schüchtern der Erde zu und verhuschen bald, wenn der Wind düstere Lieder pfeift; hungrige frierende Wölfe heulen am anderen Ufer ein elendes Klagelied …
VI
Lang währt der Winter, so lang, daß der Sommer nur noch wie ein Märchen in den Gedanken dämmert. Bejle erinnert sich kaum noch des Flusses: dort, wo ihre Erinnerung ihn sieht, fliegen Schlitten dahin und Menschen gehen leicht und sicher. vorbei, als wäre es immer so gewesen …
Aus Süden haucht es feucht und weich. Der glatte, weiße Weg wird kotig und grau. Die Fußgänger gehen vorsichtig vorbei, klopfen mit Stöcken und horchen … Die Wagen weichen an manchen Stellen in großem Bogen aus; oft spritzt es unter den Rädern auf.
Die Tage werden ein wenig länger. Der Fluß fordert Opfer: ein Mensch versinkt, ein Wagen bricht ein, Löcher und Gruben entstehen. Die Menschen halten sich eine Zeitlang scheu fern, der Schreck vor dem Auferstehen der Toten ist nicht geringer als der vor dem Todeskampf…
Eines Nachts fährt Bejle aus dem Schlafe empor und fragt erschrocken: »Großvater, hörst du? Was ist das? … « „Nichts, Kind, nichts … der Fluß rührt sich.«
Den alten Dan hat es schon lange nicht schlafen lassen. Er raucht im Finstern seine Pfeife und räuspert sich oft.
»Ha! Großvater! Was war das?« fragt Bejle, zitternd vor Schreck.
»Hm. gar nichts!« -brummt der Alte und trinkt einen Schluck Wasser. Bejle fühlt, daß Großvater gar nicht so schlecht bei Laune sei. Doch weder er noch sie kennen den Grund der Freude. Der Fluß donnert, daß alle Fenster klirren und die Mauern beben, Bejle blickt mit aufgerissenen Augen in die finstere Nacht der Stube und meint zu sehen, was sie hört.
Endlich bricht der Tag an, den sie ungeduldig erwartet hat. Sie eilt aus der Stube und fällt in die Arme eines linden Windes, der wie ein Sommerregen riecht. Unwillkürlich schließt sie die Augen. Dann läuft sie zur Weide und blickt herab.
Das Eis bewegt sich. Bejle bemerkt, daß unter dem Eise ein Riese kauert und sich bemüht, mit der Kraft seiner Schultern die schwere Decke zu heben. Das Eis biegt sich und birst an manchen Stellen, dann senkt es sich wieder. Der gefangene Riese wird ungebärdig wild und in hellem Zorn verdoppelt er seine Kraft. Das Eis wehrt sich verzweifelt gegen die stemmenden Stöße; vergebens: es bricht und kracht. Eisstücke fliegen auf und fallen nieder wie tote Fische, den weißen Bauch nach oben gekehrt … Wasser fließt aus den Wunden, umspült das Eis, reinigt es und verschlingt es. Plötzlich erzittert die ganze Masse und bewegt sich. In Hast und scheuer Eile jagen riesige Eisstücke flußabwärts wie eine geschlagene Armee, ohne Ordnung, ohne Ziel. Die Sonne hebt sich immer höher und verfolgt die Fliehenden mit stechendheißen Pfeilen. Hie und da verfängt sich ein Stück Eis in einem Uferwinkel und stirbt eines langsamen schmerzlichen Todes. Mit trauriger Angst blickt es zu den Gefährten hinüber, die wie toll vorbeijagen.
Die letzte Eisscholle ist verschwunden. Welle um Welle jagt heran. Das Wasser verschlingt das niedriggelegene linke Ufer und bricht in die Seitentäler ein. Bei Nacht hört Bejle vom Fuße des Berges her ein kurzes, tiefes Gurgeln, als unterdrückte der Fluß ein Lachen und risse sich kichernd aus starkfassenden Händen … Wieder hat das Leben seine leuchtenden Augen geöffnet.
VII
Es gab einen einzigen Lebenden, mit dem Bejle Freund zu sein versuchte. Das war Jaschko, das siebenjährige Söhnchen des Filip Karpenko, des Bauern, der drüben jenseits des Flusses in einem kleinen Häuschen wohnte. Jaschko hatte eine niedrige Stirn, graue Augen, ein breites, kurzes Gesiebt und weite Pluderhosen. Nie trug er einen Hut und sein weißes Flachshaar fiel ihm über die Augen tief ins Gesiebt. Den Mund hielt er stets offen und sein kleiner Finger weilte immer bei einem der beiden Nasenlöcher zu Besuch. Über alles, was er sah, staunte er. Einmal stand Jaschko neben dem Friedhofszaun und guckte auf die grüngelben Birnen, die auf »Großmutters Baum« wuchsen. Er staunte, wie er es immer tat, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen: in seines Vaters Garten wuchsen viele Arten von Birnen, aber gerade solche nicht. Bejle ging am Zaun vorbei und blieb stehen. Jaschko staunte, Bejle lachte hell auf.
»Er hat weiße Haare!« -rief sie lachend und deutete mit dem Finger auf den Jungen. » Was?« fragte Jaschko und blickte sich um, spähend und suchend, auf wen sie wohl deute. »Du hast weiße Haare, ich habe schwarze !« sagte Bejle nähertretend und zerwühlte ihr Haar. Jaschko streckte die Hand aus, um ihr Haar zu befühlen; er wußte noch immer nicht recht, was sie meine. Bejle lachte wieder hell auf, und verlegen zog der Junge seine Hand zurück. Die beiden Kinder blickten einander an.
»Gib Birnen!« -platzte plötzlich Jaschko heraus und staunte. Bejle stieg flugs auf den Baum. Jaschko kämpfte lange mit sich, dann sprang er über den Zaun und kletterte ihr nach. So begann die Bekanntschaft. Dan wußte lange nichts von der Freundschaft der Kinder. Er war sehr überrascht, als er eines Tages Jaschko mit Bejle zusammen auf dem Friedhofe sah. Jaschko entlief. Dan wurde rot: »Was ist das für ein Bengel? « Bejle antwortete gelassen: »Jaschko … « »Jaschko? Was für ein Jaschko? … Pfui, mit so einem Bengel! … « Bejle war verwundert: »Warum? … « »Warum ? … Wie denn? … Du bist doch ein Judenkind, was läßt du dich mit ihm ein? … « „Es ist doch Jaschko !« erklärte Bejle. Ihre Verwunderung stieg. »Hör an: du bist ein Judenkind und er ist ein Goj; -verstehst du? … «
Bejle verstand nichts. Als Jaschko am nächsten Tage wiederkam, spielte sie mit ihm wie früher. Sie war im Spiel stets die Führende, schlug Spiele vor, ersann neue, und wichtige »Lebensfragen« entschied sie. Jaschko dagegen war faul, phlegmatisch und gehorchte für ohne Widerrede. Sein größtes Vergnügen war, mit gekreuzten Beinen, den Finger in der Nase, dazusitzen und gedankenlos ins Blaue zu starren, Gott weiß wie lange. Da kam es denn vor, daß er darüber einschlief; er erschrak heftig, wenn ihn dann Bejle mit fröhlichhellem Geschrei weckte. Er kam Tag für Tag Birnen vom Baum reißen, spielen und schwatzen. Die Gespräche der Kinder waren recht sonderbar, sonderbar auch die Sprache„ ein Hilfsgemisch aus Jüdisch, Russisch, Gebärden und Lautnachahmung.
»Hast einen alten Großvater« -fragte Bejle mit Interesse.
Jaschko hielt den Finger weiter in der Nase und schüttelte den Kopf: »Nie»1. Bei mir Tatko2 und Matka3 und ein Brat4 und zwei Schwesterlein…« »Und Hruschki5 sind bei dir im Garten?« »Ja. Und Himbeeren und Korowa6.«
»Korowa? … « wiederholte Bejle in unsicher fragendem Ton; sie wußte nicht, was für eine Art Obst das sei.
»Ja, Korowa… Muuh!« verdeutlichte Jaschko und setzte sich mit den Fingern zwei Hörner auf.
»Aha!« sagte Bejle nachdenklich.
So gings durch einige Wochen. Die beiden Kinder lebten in einer eigenen Welt. Ein kleines Geschöpf zerstörte diese Welt und verlor dabei auch sein eigenes Leben. Während die Kinder einmal im Grase saßen, flog ein Vöglein vor ihnen vorbei. Jaschko faßte es. Er hielt es an einem Flügel und das arme Vöglein suchte sich verzweifelt loszureißen, piepste jämmerlich und zappelte furchtsam zwischen Jaschkos Fingern. Jaschko staunte und betrachtete das Schauspiel mit großer Neugierde. Bejle zitterte: »Laß los! Laß das Seelchen los! « rief sie angstvoll.
»Was?« Jaschko verstand nicht und riß dem Vöglein einen Flügel aus,
Bejle faßte ihn fest an der Hand. Jaschko wurde zornig: »Pustj!7« Bejle ließ nicht los.
»Du, du … Tschort!8« ächzte Jaschko hervor, zerdrückte das Vöglein, warf es fort und versetzte mit der freien Hand Bejle einen Stoß.
Bejle stand auf. Ihr Gesicht war leichenblaß. Die blauen Augen wurden furchtbar finster und zwischen den halboffenen Lippen funkelten zwei Reihen weißer, scharfer Zähne. Die gruben sich in Jaschkos Hand. Jaschko riß die Augen auf und staunte. Dann brüllte er wie ein Besessener. Als Bejle ihn endlich losließ, lief er laut heulend nach Hause. Mit funkelnden Augen und zusammen gepreßten Lippen sah sie ihm nach.
Nach diesem Vorfall ging Bejle ein paar Tage ganz verstört umher. Wie sehr auch der Großvater bat, er konnte nicht erfahren, was ihr fehle.
Dan war sehr besorgt und still betete er: »Herr der Welt! Erbarme dich meines Alters und ihrer Kindheit! Heile ihre Wunden! … o meine Tochter, meine Tochter … «
Eine Woche war vergangen und Jaschko kam wieder. Er hatte alles längst vergessen und sein breites Gesicht lächelte weich und gutmütig wie sonst. Als ihm Bejle klar und deutlich auseinandersetzte, sie wolle mit ihm nichts mehr zu tun haben, ging er tiefbetrübt weg.
Er konnte durchaus nicht begreifen, was für eine Sünde er begangen hatte, daß seine Kameradin ihm so böse sei. Vergebens mühte sich sein gedankenarmer Kopf, das schwere Rätsel zu lösen, welches ihm Bejles Verhalten aufgegeben hatte …
VIII
Viermal ist der Fluß seither gestorben und viermal hat ihn der Frühling wieder zum Leben. erweckt. Viermal hat »Großmutters Baum« seine grünlichgelben herben Birnen lässig auf den Boden gestreut. Die älteren Bäume sind. trockener geworden und etwas gebeugt, die jungen haben sich geradegereckt und ihre starken schlanken Glieder zittern vor Jugenderregung. Der graue Bart des alten Dan ist fast weiß, seine kleine gerade Gestalt ein wenig geneigt. Er besucht jetzt häufiger den Baum bei Malkes Grab und sitzt immer länger dort in tiefem Sinnen.
Wenn er beim Weggehen über die Buchstaben auf dem Stein streicht, zittern seine Finger ein wenig und seine Lippen bewegen sich leise. Die Worte auf dem Grabstein sind ein wenig verwischt; doch für den Alten werden sie immer schärfer und deutlicher. Aus ihnen formt sich ein gutes bleiches Gesicht, traulich-alt, mit stillem Lächeln in freundlichen Augen. Sie schauen ihn an, wie einst vor vielen, vielen Jahren …
Bejle ist gewachsen. Ihr Gesichtchen ist länger, um die großen Augen liegt etwas Träumerisches. Bejle horcht auf etwas. Es ist schwer zu entscheiden, ob sie den Klängen der Außenwelt horcht, jenen Ewigkeitstönen von Himmel und Erde; oder ob sie sich, in den Tiefen ihres Kinderherzchens eine mächtige Stimme hört, die da raunt und ruft – noch ist der Ruf undeutlich, manchal klingt er wie ein fernes Lied, manchmal braust er wie der Atem des Sturmes, dessen Wucht aus sich ersteht …
Dan sah sie an einem heißen Sommertage am Ufer des Flusses: Nackt stand sie da, die Hände über dem Kopf gekreuzt. Dann warf sie sich jäh in die graue träumende Flut. Der Alte erschrak: Er vermeinte ein Wesen aus einer anderen Welt zu sehen mit blinkender Haut und zarten Gliedern, die unmerklich zitterten wie eine Saite. Als der blendende, halb kindliche Körper in der Luft erglänzte und pfeilschnell ins Wasser flog, da entlief der alte Dan erschrocken und verstört, ohne zu wissen, warum er es tat. Er setzte sich ans Fenster seines Häuschens und wartete auf die Enkelin. Es sprach in ihm: »Das ist nicht mehr Bejle, nicht mehr dieselbe Bejle. Was wird sie sagen, wenn sie kommt? … «
Nach einer halben Stunde wurde Bejle auf dem schmalen Pfade sichtbar, der vom Abhang beim Flusse zum kleinen Häuschen Dans führte. Ihre Haare waren naß und gelöst, das Antlitz leicht gerötet und der Blick müde. Langsam und anmutig wie eine Prinzessin bewegte sie sich mit leichtem Schritt der bloßen Füße über das weiche Gras. Auf den unsicheren Blick des Großvaters antwortete sie mit einem herzlichen Kinderlächeln. Dan wurde lebhaft: »Hast du gebadet? He? … « fragte er Iächelnd. »Es ist heiß, ja, sehr heiß …. «
IX
Die Julihitze war unerträglich. Den ganzen Tag schaute die Sonne scharf auf die Erde nieder, als wollte sie sagen: »Wer mir nicht ins Gesicht sehen kann, muß fort von der Welt!« Die Erde schien sich in weißen Staub verwandeln zu wollen.
Endlich kam ein anderer Tag. Der Himmel bedeckte sich mit grünlichem Schleier. Schwer atmeten alle Geschöpfe die dicke Luft. Zornig schaute eine blutrote Sonne nieder. Schon am Morgen ging Bejle unruhig umher und zwischen ihren Brauen lag eine tiefe Furche, ihre Stirnfurche. Und als sie nachts auf ihrem Lager lag und das Klagen des Windes zwischen den Grabsteinen vernahm, da zitterte sie an allen Gliedern: Was ist dort draußen? Wessen Angst zittert in den Lüften? Wen quält man dort? …
»Großvater! Schläfst du, Großvater? … Man ruft mich, Großvater! Hörst du’s? … Nein, ich gehe nicht! Was willst du dort, du? … Ich gehe nicht! Ich … gehe … nicht! … «
Leise öffnete sich die Tür und eine kleine weiße Gestalt huschte aus dem Zimmer … In dieser Nacht war die Welt in der Macht einer bösen schwarzen Hexe, die mit der Flut ihres grauen bösen Haares den ganzen Himmel bedeckte … In dieser Nacht wurde der Friedhof lebendig, die Toten erinnerten sich ihres Lebens, dort in der Stadt der Lebenden, alles dessen, was sie gelitten und gelassen hatten. Und während die Stadt der Lebenden drüben wie ausgestorben lag und keines Lichtleins Glanz einen lebenden Blick herübersandte, war hier in der Stadt der Toten kein Grashalm ruhig… Ein schwerer Seufzer strich über den Boden hin. In den Lüften, wo die Häupter der Bäume düsterten, zog ersticktes Ächzen und gedrücktes Murmeln durch die Nacht. Zwischen den Gräbern rangen todwunde Vöglein mit dem Tode und schlugen mit sterbensmatten Flügeln an die Grabsteine …
Pfeilschnell durcheilte Bejle den Friedhof und hastete zur Weide, die stumm und verbissen bald in den Abgrund tauchte, bald sich zum Himmel reckte. Mit Gier riß der Wind Bejles Hemd vom Leibe und preßte sich mit wilder Lust an ihren brennendheißen weißen Körper. Sie schwang sich auf die Weide, krampfte sich mit ihren kleinen Fingern an die flatternden Äste fest und blickte in den Abgrund nieder.
Tiefes Dunkel. Von Zeit zu Zeit nur blitzt unten ein Silberstreif auf und vergeht rasch im tiefen Dunkel. Und dort unten im Dunkel ringt es und schluchzt es, tobt und tost wild und blutgierig. Bekannter Klang, geahnt, bekannt … Er ist schon einmal erklungen… Einst… Wann? Wo? …
Bejles Mund entrissen sich zwei kurze Schreie:
»Mutter! – Mutter!«
Es war das erste Mal, seit sie beim Großvater wohnte.
Mit einem Male riß der schwere Schleier, welcher all’ die langen Jahre um Bejles Haupt gelegen war.
Und sie sah …
Eine kleine ärmliche Stube. Beim Fenster steht ein düsterer Mann in dumpfem Sehweigen. Bejles Vater. Hinter ihm ein helles Frauenantlitz, ihre liebe gute Mutter. Auf der Gasse draußen Schreien und Pfeifen, Klopfen und Klirren, wie der Sturm. Im Zimmer drückende Stille. Die Töne nähern sich. Der Vater wird bleich. Mit wankendem Schritt geht die Mutter zum Bett und setzt sich nieder. Die Tür kracht und bricht. Der Vater faßt einen Stuhl, die Augen der Mutter werden tiefschwarz.
Böslustiges Poltern und Pfeifen. Rote Gesichter und derbe Fäuste, Racken und Hämmer. Der Vater trifft mit dem Stuhl ein Gesicht. Ein Hammer saust auf Vaters Kopf. Der Vater sinkt um. Die kleine Bejle überläuft es kalt. Ihre Zähne drücken sich aufeinander und die Lippen öffnen sich. Sie sitzt auf der Erde; ihr Blick wird starr.
Mutters Gesicht verzerrt sich. Ein riesiger Mensch mit rotem Schnurrbart stürzt sich auf die Mutter und bedeckt ihren Mund mit der Hand. Bejle sieht einen großen Stiefel neben dem Bette. lhr Blut erstarrt. Dumpf schreit die Mutter: »Chaim« Vom Fenster her Hammerschläge, dumpf und weich. Die Mutter stöhnt: »Be-j-le!«
In heißem Strom löst sich die Starrheit von den Gliedern der kleinen Bejle. Sie blickt auf den Fuß mit dem großen Stiefel. Ihre Zähne werden scharf. Sie kriecht am Boden näher und näher. Die Zähne schärfen sich mehr und mehr. Der Stiefel ist schon ganz nah und die kleinen Zähne graben sich ein mit wildberauschter Freude.
Ein kurzer Schrei. Der Stiefel hebt sich und die kleine Bejle schwebt in der Luft. Dann wird es finster und still … still.
X
Der Sturm hatte seinen höchsten Grad erreicht. Es war kein Sturm mehr -in tollem Rasen stürzten sich die Elemente auf die erschreckte wehrlose Erde. Die Seelen warfen sich auf ihre Grabsteine, rüttelten sie und rissen sie aus, als wollten sie jetzt die Totenstadt aus dem Antlitz der Erde ausmerzen. Die Welt schien zum Chaos zurückkehren zu wollen, aus dem sie entstanden war, von dem sie sich -ach -so wenig entfernt hatte…
Von der Weide über dem Flusse tönt klagendes Wimmern: »Mutter! – Mutter! –… « Jetzt hat endlich das sonderbare Menschenspielzeug alle seine Rädchen gezeigt! Alle Rädchen mit all’ ihrem Mechanismus und wirrem Drehen. Das Menschlein, das starr und bitter auf die Grabsteine seiner Lieben sinkt, hat große Angst vor Weh und Schande, fiebrische Angst vor Weh und Schande und quält und martert und schändet in selbstvergessener Lust. Die Rädchen sausen, die Zähnchen fassen und das Menschlein tanzt, das Menschlein tanzt … tanzt! »Mutter! – Mutter! –‚…«