Joseph Süßkind Oppenheimer ist der »andere« Oppenheimer, obwohl er eigentlich der erste war. Raquel Erdtmann hat »jenem« Oppenheimer ein faszinierendes Werk gewidmet: »Joseph Süßkind Oppenheimer: Ein Justizmord«.

Jedenfalls entfaltet sich in JSO (wie die Insider wohl sagen) eine Geschichte, die so packend ist, dass man sich unweigerlich fragt, warum sie noch nicht als Serie für einen Streaming-Dienst verfilmt wurde. Raquel Erdtmann rekonstruiert die außergewöhnliche Saga eines Mannes, dessen Leben und Tod das Deutschland des 18. Jahrhunderts eigentlich erschüttert haben müsste. Stattdessen war da nur Hohn und Spott für den toten Juden am höchsten denkbaren Galgen. Das tut die Autorin mit der Präzision einer Gerichtsreporterin (die sie ist) und dem narrativen Können einer Romanautorin (die sie vielleicht sein sollte).

Aber zunächst zurück zu Oppenheimer. Dieser ist ein Finanzberater im Herzogtum Württemberg. Er verkörperte einen unkonventionellen »Grenzgänger«. Er stammte aus einer Familie, die einst aus dem Ghetto Frankfurts kam (in dem er nicht leben musste, weil er in Heidelberg zur Welt kam), stieg er zum zweitmächtigsten Mann des Herzogtums auf, bewegte sich geschickt über das politische Parkett, durch die Wirren der Einschränkungen für jüdische »Bürger« und durch die verwirrenden Regellosigkeiten des aufkommenden Kapitalismus. Seine Geschichte liest sich wie ein barockes »House of Cards«. Also voller Intrigen, waghalsiger Finanzmanöver und politischer Schachzüge.

Ein Leben wie ein Drehbuch

Erdtmann zeichnet das Bild eines Mannes, der seiner Zeit weit voraus war. Oppenheimer, ein Selfmademan und Finanzgenie, brach aus den engen Grenzen aus, die Juden damals gesetzt waren. Er residierte außerhalb des Ghettos, kleidete sich elegant und charmierte sich durch die höchsten Kreise. Gleichzeitig blieb er seinen jüdischen Wurzeln treu, eine Ambivalenz, die Erdtmann meisterhaft einfängt.

Die Autorin bringt uns in eine Welt, in der ein jüdischer Außenseiter und ein ehrgeiziger Herzog eine seltsame Allianz schmieden. Gemeinsam versuchen sie, ein rückständiges Agrarland in einen modernen Staat zu verwandeln – vollkommen klar, dass sich beide beim Establishment des Landes nicht nur Freunde machen und selbst das ist ein Euphemismus.

Doch wie in jeder guten Serie folgt auf den Aufstieg der dramatische Fall. Als der Herzog plötzlich stirbt, entlädt sich der aufgestaute Hass in einem Schauprozess. Erdtmann seziert akribisch die juristischen Machenschaften, die Oppenheimer zu Fall bringen. Sie zeigt, wie Antisemitismus, Neid und politische Rache eine toxische (Verzeihung für das Modewort) Mischung eingehen. Alles gipfelt in einem der spektakulärsten Justizmorde der deutschen Geschichte. Ohne filmreife Rettung in letzter Sekunde.

Blick ins Buch

Zugleich klingt die Geschichte in die aktuelle Zeit hinein. In einer Ära, in der Antisemitismus noch präsenter ist und kein Attribut einer unaufgeklärten Gesellschaft – ist Oppenheimers Schicksal vielleicht ein mahnendes Beispiel für die Fragilität des Fortschritts und die Beständigkeit eines unerklärlichen Hasses. Es ist eine gute Entscheidung, dass in JSO darauf verzichtet wird, die Darstellung Oppenheimers aus späteren Epochen ausführlich zu begutachten. Stattdessen konzentriert sie sich auf die historischen Fakten – in spannender Form. So verblüffend wie die Tatsache, dass die Serie noch nicht realisiert wurde, ist der Fakt, dass Raquel Erdtmann die originalen Unterlagen zur Verhandlung und zu Oppenheimer eingesehen hat. Im Gegensatz zu einigen anderen Autoren, die zu ihm veröffentlicht haben. Auch das passt in die aktuelle Zeit, in der »Fakten« nicht immer bis zu ihrer Quelle zurückverfolgt haben. Die Mörder von JSO haben alles fein säuberlich dokumentiert und es ist ein kleines Wunder, dass viele Dokumente noch immer zu finden sind. »Joseph Süßkind Oppenheimer: Ein Justizmord« dürfte DAS Buch mit Bezug zur jüdischen Geschichte in Deutschland 2024 gewesen sein.

Noch einmal zurück zur Serie: Die wird wohl nie kommen. Denn dann müsste man sich mit einer Konstante im deutschsprachigen Raum beschäftigen: Antisemitismus. Es soll Leserinnen und Leser geben, die von diesem Element der Geschichte von JSO überrascht sein sollen.

Zur Qualität der Buchausgabe

Es gibt ein Version als e-book für alle gängigen Reader. Allerdings entgeht dem elektronischen Leser die Qualität der Buchausgabe. Herausgebracht hat das Buch der Steidl Verlag. Karl Lagerfeld soll gesagt haben, Gerhard Steidl sei der »beste Drucker der Welt« und danach sieht das Buch als »Hardware« auch aus. Ein hochwertiger Einband, ein Leseband, gutes Druckbild. Das Auge liest mit, möchte ich fast schreiben.

Raquel Erdtmann: »Joseph Süßkind Oppenheimer: Ein Justizmord«. Steidl Verlag, Göttingen 2024, 272 S., 24 €