Die Angst seit dem 7. Oktober ist in der deutschen jüdischen Community greifbar. Am 9. Oktober schon solidarisierten sich in Duisburg Menschen mit der palästinensischen Sache und skandierten israelfeindliche Parolen. Es kam zu Ermittlungsverfahren. In Berlin kommt es zu Auseinandersetzungen, ja regelrechten Straßenschlachten, mit der Polizei. Die Forderung nach Frieden liegt selten in der Luft.

In der Regel bleibt es bei »Free Palestine« und dem Zeigen einer Landkarte, auf der Israel durch einen palästinensischen Staat ersetzt wurde. Kein Entsetzen also über das Verhalten der Hamas. Man könnte das als Solidarisierung verstehen.

Der anonyme Cartoonist »Ahoi Polloi« bringt die Kernaussage, wie sie in der jüdischen Community ankommt, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeichnung auf den Punkt. In seiner Zeichnung strecken die Demonstranten Schilder mit den Slogans »Nie wieder Juden« oder »Hurra zum Mord« in die Luft (zu sehen bei BlueSky).

Nach Angaben der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus wurden nach dem Angriff der Hamas binnen einer Woche 202 antisemitischen Taten in Deutschland dokumentiert. Dieser Angst begegnen in der taz am 22. Oktober 100 »jüdische Künstler:innen, Schrift­stel­le­r:in­nen und Wis­sen­schaft­le­r:in­nen«. Allerdings machen sie sich Sorgen um diejenigen, die sich mit den »Palästinensern« solidarisieren (die übrigens auch keine homogene Gruppe sind). Angeblich hätten »Landes- und Stadtregierungen in ganz Deutschland öffentliche Versammlungen mit mutmaßlichen Sympathien für Palästinenser verboten«. Das mag für einige Städte sogar zutreffen. Tatsächlich aber fanden überall in Deutschland genehmigte Demonstrationen statt. Nur dort, wo Straftaten zu erwarten waren, wurden sie untersagt. 

Dieses Mal hat die Politik die Ängste der Community ernst genommen und reagiert. Nicht immer zielgerichtet, aber es entstand Bewegung. Die Verfasser des offenen Briefes nennen die Reaktionen auf die realen Ängste »einen zwanghaften und paternalistischen Philo-Semitismus«. Zwar nennt man einige Übergriffe und Vorfälle, doch die Ursachen dafür? »Die Beweggründe für diese nicht zu rechtfertigenden antisemitischen Straftaten und ihre Täter bleiben unbekannt.« Man könnte dies als Naivität abtun, doch tatsächlich geht es darum, »dass die gefühlte Bedrohung« derjenigen heruntergespielt wird, die auf Probleme hinweisen und das ganz ohne »Kriminalisierung« einer gesamten Gruppe tun. Dazu werden alle Register gezogen: »Die Versammlungsverbote sollen ein Versuch sein, die deutsche Geschichte aufzuarbeiten, doch vielmehr besteht die Gefahr, dass man sie genau dadurch wiederholt.« Zwar wird man den »NS-Vergleich« zurückweisen, doch um was sollte es sich anderes handeln?

Der »offene Brief« in der taz ist eine ideologische Verzerrung der gegenwärtigen Situation. Vielleicht hilft es den Unterzeichnenden mit den kognitiven Dissonanzen umzugehen, mit denen sie durch das Massaker konfrontiert wurden. Der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland hilft es nicht.