Eine weitere Rabbinervereinigung

Ab dem Jahr 1952 hatte Deutschland eine (also eine sowohl als unbestimmter Artikel, als auch als Zähler) »Rabbinerkonferenz«. Damals gegründet von Rabbiner Siegbert Neufeld. Dieser gehörten (fast) alle Rabbiner Deutschlands an, jedenfalls die Rabbiner, die in einer Einheitsgemeinde oder einer Gemeinde amtierten, die dem Zentralrat der Juden in Deutschland angehörte. Wie kollegial das Miteinander war, können nur die Rabbiner verraten, die einst dabei waren. Die Rabbinerkonferenz sollte ab 2005 eigentlich Dachorganisation für zwei Organisationen bleiben, die aus ihr hervorgingen. Die Allgemeine Rabbinerkonferenz Deutschland (ARK) für alle nicht-orthodoxen Rabbiner und die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) für die – Überraschung – orthodoxen Rabbiner. Später kam die Rabbinerkonferenz von Chabad hinzu, der Rabbinerrat ohne fancy Abkürzung.

Nun überraschte die Gründung einer weiteren Rabbinerversammlung. Am 2. April 2024 verkündete die »Liberale Rabbinervereinigung« ihre Gründung (die bereits am 28. März 2024 stattgefunden hatte) und verkündet selbstbewusst, »Nachfolgeorganisation der historischen Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands (1899-1938)« zu sein. Gemeint ist vermutlich, dass beabsichtigt wird, an das Vermächtnis jener Organisation anzuknüpfen. Eine personelle Kontinuität scheint es, jedenfalls auf den ersten Blick, nicht zu geben.

Wie die Rabbinervereinigung vermeldet, zählen zu den Gründungsmitgliedern neunzehn Rabbinerinnen und Rabbiner. Welche das sind, wird oder wurde allerdings nicht verraten. Aus welchen Personen der Vorstand besteht, allerdings schon:  Alexander Grodensky (Luxemburg) ist Vorsitzender, Prof. Dr. Andreas Nachama (Berlin) und Natalia Verzhbovska (Bielefeld) als stellvertretende Vorsitzende. Aufmerksamen Beobachtern wird aufgefallen sein, dass hier eventuell Ereignisse rund um die Union für Progressives Judentum und den ehemaligen Leiter des Abraham-Geiger-Kollegs eine Rolle spielen könnten. Die angestrebte Neuordnung des Kollegs unter Hilfe des Zentralrat war (oder ist) eine Maßnahme, die einige ablehnten. Siehe etwa diesen offenen Brief auf hagalil – eventuell wird man die Namen unter dem offenen Brief auch in der Mitgliederliste der Rabbinervereinigung finden. Wie das Verhältnis zur Allgemeine Rabbinerkonferenz Deutschland sein wird, steht noch aus. Die Rabbinervereinigung beeilte sich jedoch, zu versichern:

Die Rabbinervereinigung sieht sich der World Union for Progressive Judaism und den mit dieser verbundenen Organisationen, insbesondere der Union progressiver Juden Deutschlands (UPJ) und der European Union for Progressive Judaism (EUPJ), zugehörig. UpJ und EUPJ haben die Gründung in ihren Grußworten begrüßt.

Dass bereits Grußworte vorlagen und einige Mitglieder der ARK anscheinend nicht informiert waren, könnte also den Eindruck erwecken, hier sei hinter den Kulissen an der Überraschung gearbeitet worden. Das Bemühen um neue Strukturen, statt diejenigen, die schon bestehen, mit Leben zu füllen, ist jedenfalls bemerkenswert.

Die Pressemitteilung erinnert stilistisch möglicherweise an Mitteilungen, der UpJ. Möglicherweise ein Zufall. Zufall auch, dass Dr. Jan Mühlstein sich auf hagalil gegen die Übernahme der Rabbinerausbildung durch den Zentralrat ausgesprochen hat und das Grußwort der EUPJ von Lea Mühlstein stammt.

Wachstum ist möglich! Altneu New York

Wie man eine wachsende Gemeinde aufbaut? Na gut, das Umfeld für die »Altneu-Synagogue« ist etwas idealer als in Berlin: Sie ist in New York. Und die Geschichte der Synagoge könnte jüdischer nicht sein (die Geschichte, nicht die Synagoge, das ergäbe sonst keinen Sinn):
Die etablierte (und reiche) Park East Synagogue in New York stellte 2010/2011 Rabbiner Benjamin Goldschmidt (dessen Vater übrigens Pinchas Goldschmidt ist) als Assistenzrabbiner ein. Es stellte sich heraus, dass Goldschmidt nicht nur jung, sondern auch sehr charismatisch war.

Die Menschen fanden ihn großartig und er konnte die jüngeren Generationen ansprechen. Er wurde populär. Der eigentliche Rabbiner der Gemeinde, Rabbiner Schneier, wurde im Jahr 2021 91 Jahre alt und ahnte, dass der Gemeindevorstand vielleicht auf den Gedanken kommen könnte, er stünde nicht mehr im Zenit seiner Karriere. Da er die Personalleitung für seinen Bereich verantwortete, entließ Rabbiner Schneier seinen jüngeren Kollegen Goldschmidt kurzerhand. Das wurde publik, weil Benjamin Goldschmidt das nicht einfach hinnahm (und seine Frau eine bekannte Journalistin ist – Avital Chizhik-Goldschmidt). Zeitungen berichteten anschließend über den »Krieg der Rabbiner«. Auch über New York hinaus (siehe etwa den Bericht in der Times of Israel).

Goldschmidt nahm ein paar Anhänger mit und traf sich mit ihnen in seiner Wohnung. Dann wurden es mehr Menschen und die Gruppe suchte sich immer wechselnde Räume – die immer größer wurden. Es kamen laufend Menschen hinzu, die Rabbiner Goldschmidt schätzten, seine Draschot und die Atmosphäre. Daraus wurde die »Altneu Synagogue« ohne feste Adresse - bis sie jetzt im April eine neue Bleibe für 34,5 Millionen US-Dollar erworben hat. Das »Thomas Lamont Mansion« (Bilder gibt es hier).

Innerhalb von drei Jahren hat es Rabbiner Benjamin Goldschmidt also geschafft, eine große Gemeinde aufzubauen. Heute besteht sie aus etwa 400 Familien (!) und hat offensichtliche die notwendigen finanziellen Ressourcen, um eine Top-Immobilie zu kaufen. Ein neues Video stellt die Gemeinde vor (auf Instagram, hier).
Was eine Mitgliedschaft in einer Gemeinde in den USA bedeutet, zeigen die Beiträge: 3600 Dollar für eine Familie (das inkludiert zwei Sitzplätze für die Hohen Feiertage),  1800 Dollar für eine Einzelperson, 2400 Dollar für eine Familie bis zum Alter von 35. Anscheinend ist die Gemeinde jedoch bemüht, auch Menschen anzusprechen, die sich das nicht leisten können. Wer Kultussteuer (oder auch Kirchensteuer genannt) zahlt und ein Einkommen von rund 3000 Euro hat, dürfte in Deutschland etwa 430 Euro im Jahr beitragen müssen. Die Erwartungshaltung an die Gemeinde ist dann aber auch eine andere. Immerhin zahlt jede und jeder sein Geld freiwillig. Es ist eher nicht denkbar, dass Gemeinden es sich leisten können, Menschen lediglich zu »verwalten«.Rabbiner Schneier hat also seine Stelle geschützt (ja, er ist auch 2024 Rabbiner der Gemeinde), der eigenen Gemeinde aber dürfte das nicht nur genutzt haben. Ist der Rabbiner charismatisch und hat Interesse etwas zu bewegen, kann eine »rabbinergeführte« Gemeinde (Gruppe) also durchaus Erfolg haben. Er trifft den richtigen Nerv.

Israel und der Tod der Helfer

Eine tragisches Ereignis.
Sieben Mitarbeitern einer Hilfsorganisation im Gazastreifen wurden getötet. Von der israelischen Armee. Dass dies untersucht wird, ist die Mindestforderung an die Armee des Staates Israel und diejenigen, die Verantwortung tragen. Das liegt auf der Hand. 

Drei der sieben Mitarbeiter waren britische Staatsbürger. Berechtigterweise spricht sich der damalige Premierminister David Cameron für seine Landsleute aus – er verurteilte die Bombardierung scharf und damit war er nicht allein. Auch andere Verantwortliche aus NATO-Mitgliedsstaaten meldeten sich. Etwa Joe Biden, der seine »Empörung« über die Tötung der Helfer zum Ausdruck brachte. Die Empörung ist gerechtfertigt, aber nur dann glaubwürdig, wenn man auch andere Vorfälle dieser Art schonungslos kommentiert hat. Nehmen wir beispielsweise eine Afghanistan. Bei einem Luftangriff auf eine Hochzeitsfeier wurden 37 Menschen getötet. Durch einen Luftangriff der US-Luftwaffe. Als David Cameron Premier war, kamen im Libyen 2011 durch einen NATO-Einsatz nicht nur feindliche Kämpfer ums Leben. Das geschah unter Barack Obama und seinem Vizepräsidenten Joe Biden. Bevor der Einwurf kommt: Das ist kein Whataboutism, sondern ein Bericht darüber, wie unterschiedlich die Reaktionen sein können – wenn es um Israel geht. Schnell hieß es in den Sozialen Medien, Israel habe das mit Absicht getan. Entsprechende Geschichten waren schnell konstruiert. »Na klar, Israel möchte ja gar keine Hilfe.«. Schnell wird klar: Israel ist der einzige Staat überhaupt, der alles richtig machen muss. Übrigens in der Auseinandersetzung mit einem Gegner, der zivile Opfer maximieren will, statt sie minimieren zu wollen. 

NATO-Armeen töten Zivilisten: Ein tragisches Versehen.

Israel: Eventuell Absicht.

Könnte da mit unterschiedlichem Maß gemessen werden?Ohne das Massaker vom 7. Oktober 2023 würden die sieben noch leben.

Vergessen wir auch das nicht.