Was muss ich zu dem Flugblatt wissen, das aus dem Hause Aiwanger stammt?

Der Inhalt des Flugblatts

Die SZ hat es am 25. August 2023 ihrem Artikel beigefügt. Problem an der Geschichte: Die Reproduktion antisemitischer Flugblätter ist immer noch die Verbreitung von Antisemitismus. Man müsste sich also auf die diejenigen verlassen, die das Blatt gesehen und daraus zitiert haben. Es gibt eigentlich keinen Grund, den Inhalt immer weiter zu verbreiten.

Es stammt aus dem Hause Aiwanger

Die Süddeutschen Zeitung (SZ) hat am 25. August 2023 berichtet, Hubert Aiwanger solle als Schüler ein antisemitisches Flugblatt verfasst haben. Dieser wies die Vorwürfe zurück, sagte aber auch, es seien »ein oder wenige Exemplare« in seiner Schultasche gefunden worden. Später sagte sein Bruder, er habe den Text verfasst: »Ich war damals total wütend, weil ich in der Schule durchgefallen war.« Soweit wir also wissen, stammt es tatsächlich aus dem Hause Aiwanger.
Die Ausformulierungen, die Anspielungen und die akkurate Ausführung lassen aber nicht auf einen Schnellschuss aus Frustration schließen.

Die Überzeugungen, die das Pamphlet ausdrückt

Die Überzeugungen, die hier zum Ausdruck kommen, sind keine Kennzeichen für Frust. Sie lassen Rückschlüsse darauf zu, wie über die Schoah und die Vernichtungsmaschinerie gedacht wurde. In dem Dokument wird deutlichst darauf Bezug genommen, was in den deutschen Lagern geschah (»Schornstein«, »Genickschuss«) und sich letztendlich darüber lustig gemacht.
Die Fernsehserie »Holocaust« lief im Januar 1979 und sorgte in ganz Deutschland für Aufsehen und hat die Öffentlichkeit tatsächlich erreicht. 20 Millionen Menschen sollen die Serie gesehen haben. Übrigens an dieser Stelle erwähnenswert: »Holocaust« wurde wohl nur in den dritten Programmen gezeigt. Dafür hatte der Bayerische Rundfunk gesorgt. Dort wollte man nicht, dass die Serie im Hauptprogramm lief.
Aus dem Text einen »Lausbubenstreich« zu machen, verharmlost das Thema insgesamt und verkennt den entlarvenden Inhalt sowie den Kenntnisstand der Menschen in den 80er Jahren.
An dieser Stelle sollte man übrigens fragen, wie die Vertreter der Lausbubenstreich-These bei einer Person reagieren würden, wenn diese, sagen wir, in Syrien aufgewachsen wäre und in der Schule einen antisemitischen Aufsatz hätte schreiben müssen und dieser nun an die Öffentlichkeit käme?

Ist das Pamphlet antisemitisch?

Natürlich ist es antisemitisch (und beleidigend gegenüber den Opfern), wenn sich jemand über Auschwitz lustig macht. Es muss eigentlich nicht erläutert werden, wofür das Lager steht. Jüdinnen und Juden müssen (bekanntlich) nicht immer wortwörtlich benannt werden, damit ein Text antisemitisch ist. In dem Text werden die Opfer der Schoah verhöhnt und das ist zweifelsfrei antisemitisch.
Wie die WELT berichtete, befindet sich das Pamphlet auch in der Bibliothek der KZ-Gedenkstätte Dachau und wurde dort als Teil einer Schülerarbeit aus den späten 80er Jahren archiviert, die den zeitgenössischen Antisemitismus dokumentieren sollte.

Ist die Veröffentlichung nicht Teil einer Kampagne?

Es mag sein, dass die SZ den Zeitpunkt für die Veröffentlichung bewusst in den bayerischen Wahlkampf gelegt hat (hier generiert ein solcher Vorwurf vermutlich nicht wenig Aufmerksamkeit). Auf der anderen Seite könnte über nichts berichtet werden, wenn nicht jemand das Pamphlet verfasst hätte. Ohne Flugblatt, keine Berichterstattung. Die Kampagne hätte dann also 1988 beginnen müssen?

Hat nicht jeder eine zweite Chance verdient?

Natürlich hat jeder Mensch eine zweite, dritte und weitere Chance verdient. Vorausgesetzt ist natürlich Umkehr. Vor dieser Umkehr steht jedoch ein Bewusstsein für das, was falsch gelaufen ist. Einige Personen der Öffentlichkeit haben eine interessante Vergangenheit – aber einige von ihnen hatten die Größe, über die Fehler der Vergangenheit zu sprechen und öffentlich einzuräumen. Eine Aufklärung der Vorwürfe in kleinen Schritten spricht nicht für eine innere Bereitschaft zur Auseinandersetzung – ganz gleich ob Hubert Aiwanger verfasst oder verteilt hat.