Schmarja Gorelik hat im Jahr 1919 einen Bericht über den Ersten Weltkrieg verfasst. Aus der Schweiz heraus. »Fünf Jahre im Lande Neutralien«. Viele seiner Beobachtungen gelten noch heute und erschüttern immer noch. Das Büchlein erschien im Jüdischen Verlag
Berlin und wurde für die Publikation aus dem Jiddischen übersetzt – ist aber in jiddischer Sprache nie erschienen! Der Autor Schmarja Gorelik (1877–1942) wird heute nicht mehr so häufig gelesen – um einen Euphemismus dafür zu verwenden, dass er fast vergessen ist – zu Unrecht!

Der westeuropäische Betrachter fühlt sich an seine Haltung zur Ukraine erinnert. An der Schweizer Haltung hat sich nichts geändert. Im Buch geht er insbesondere auf die Situation der jüdischen Gemeinschaft ein.

Alle neutralen Länder zeigen während dieser schrecklichen gottverlassenen Jahre des Krieges das gleiche Gesicht und die gleiche Seele. Neutrales Land bedeutet — ein Leben hinter einer hohen Schutzmauer leben und ein dumpfes Hinhorchen auf den blutigen Lärm von außen. Er ist ganz nahe, dieser blutige Lärm, aber die Mauer ist hoch und dick, und so scheint es, als käme er aus weiter Ferne. Gewiss, auf sensible Naturen wirkt dieses Drama, das sich hinter der Mauer, doch ganz nahe, eben in diesem Augenblick abspielt, um so gewaltiger, wirkt schaurig wie ein Alpdruck. Man sieht nur die allgemein düsteren Konturen eines Bildes, in dem alles nur grenzenlose Tragik ist. 

Man vergisst, dass die menschliche Anpassungsgabe es zustande bringt, selbst im Raum der konzentriertesten Tragik sich Eckchen der Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit zu bewahren. Während eines furchtbaren Feuerkampfes vor einer Festung oder auf offenem Felde sitzt irgendwo abseits, ein einsamer armer Soldat und kratzt mit dem Rest seiner vertrockneten Brotkrume über den Boden seiner Konservenbüchse. 

In der unmittelbarsten Nähe eines Leichenberges erklingt menschliches Lachen und werden Anekdoten erzählt, ganz zwanglos und ungekünstelt. Echtes Lachen und echte Anekdoten. Gelassen reihen wir uns dem Zuge ein, der unseren besten Freund zum Friedhof geleitet. Ja noch mehr: kaum ein Schritt von der Stätte der ewigen Ruhe, gleich hinter ihrer Mauer stecken wir unsere Zigarette an und beginnen von unseren Geschäften zu reden.

Es gibt nichts, absolut nichts, was dem Menschen noch schrecklich erschiene, wenn es einige Zeit gedauert hat. Doch eine erschütternde Tragödie durch eine Mauer hindurch wahrzunehmen, zu fühlen, Hilferufe hören und nicht zu Hilfe eilen zu können — das ist etwas wirklich Grausiges. Aber es wirkt nur auf Menschen von empfänglicher Natur und zarter Seele. Solche Menschen gibt es aber nur wenig. 

Und manchmal, besonders in der letzten Zeit, steigen einem Zweifel auf, ob es überhaupt solche gäbe. 

Wer brachte die Legende auf; der moderne Mensch habe feine, schwache Nerven? 

Diese Legende erwies sich als Betrug, als Heuchelei. 

Der Mensch besitzt eiserne Nerven, Nerven so dick wie Taue. Der Mensch strotzt vor Gesundheit, er ist gesund wie ein Stier. 

Er vermag alles zu ertragen, er ist bis zur Unanständigkeit zähe. Die schwerste Enttäuschung für den Schwärmer war es eben, dass der Mensch sich fähig erwies, so viel zu ertragen. Der neutrale Mensch machte darin keine Ausnahme. Er sonnte sich geradezu im Gefühl seiner Gesundheit, er war wunderbar in seinem gleichmäßigen, ruhig-stoischen Seelenzustand, in seiner Fähigkeit, die Weltgräuel philosophisch hinzunehmen. Wahrhaftig, die Mauer, die um jedes Neutralienland aufgerichtet war, ließ nicht viel Platz für ernste innere Konflikte, für moralische Quälereien, für seelische Zerwühlungen. Aufrichtig gesagt, war es eine höchst bequeme Mauer. Sie hatte in ihrer Nähe die Zentralheizung, hatte allen Komfort, sie war errichtet zu dem Zwecke, nicht alles, was in einiger Entfernung vorging, zu hören. Es war gut, hinter dieser neutralen Mauer zu leben, hinter einer Mauer des geheiligten und kanonisierten »Sich nicht einmischen«. Wohl taten die Zeitungen ihre Sache: sie schilderten die Schrecken des Krieges so grell, mit solchen Einzelheiten, dass das Gewissen des neutralen Menschen in höchste Erregung versetzt werden konnte. Sie erzählten genug, diese Zeitungen, um ihn aus dem Zustand der philosophischen Ruhe und Gleichmütigkeit herauszubringen. Aber bitte, brachte das frischwangige neutrale Stubenmädchen nicht zugleich mit der Morgenzeitung auch den heißen duftenden Kaffee und die herrlichen frischen Brötchen ins Zimmer? 

Wenn der Kriegskorrespondent glaubte, durch die blutigen Details, die seine Feder so talentvoll wiederzugeben wusste, einen Seelensturm hervorzurufen, so irrte er sich, der naive Tor. Es wird keinen Sturm geben, nicht einmal ein Wölkchen. Man hat sich ja gewöhnt. Im Gegenteil, je mehr Einzelheiten er gibt, um so wohliger das Wärmegefühl hinter der Mauer, um so besser schmeckt der echte, unverfälschte Kaffee, um so schmackhafter die knusprigen Brötchen. Glück, lieber Mensch des Landes Neutralien, er nimmt ein zweites, ein drittes Brötchen, warum denn nicht? 

Glücklicher Mensch, er kann es sich leisten. Wer möchte es wagen zu bezweifeln, dass der neutrale Mensch in vollem Sinne des Wortes glücklich ist, glücklich sozusagen in Ehren und Würden. Niemand bezweifelt, dass er dieses Glück ehrlich verdient hat. Inmitten ihrer vernichteten Städte, inmitten der Wüsten, mit der gegenseitigen Ausrottung ganz und gar beschäftigt, fanden die kriegführenden Völker noch Zeit, über die Grenze des Landes Neutralien zu blicken. 

Sie sahen dort Überfluß und Behagen, machten dazu ein gutmütiges Gesicht und riefen laut:
Guten Morgen, herrliche grüne Wiese!
Guten Appetit o gesegnete Oase in der Wüste des Todes, die dem Durstenden Kühlung, dem Müden Ruhe spendet. 

Und diesem Gruß schloss sich eine süße, rührende, Serenade an …

Das gesamte Buch kann man hier online lesen (Freimann-Sammlung).