Wer das Wirken von Claudia Roth verfolgt, wird bemerkt haben, dass sie fest daran glaubt, dass der Mensch stets das Gute beabsichtigt und somit alle Menschen im Prinzip Gutes wollen. Daran, diese Überzeugung in Politik übersetzen zu wollen, ist nichts Schlechtes. »Bunt« ist kein Schlagwort, sondern eine Agenda für eine bessere Gesellschaft.
Menschen, denen eine bunte Gesellschaft nicht erstrebenswert erscheint, sind natürlich keine Freunde von Claudia Roth – um das einmal euphemistisch zu formulieren.
Dieses Menschenbild hat aber auch eine kleine Schwachstelle: Nicht alle Menschen sind so. Es ist offensichtlich, dass einige keine guten Absichten haben. Einem kleinen Teil dieser Menschen kann man mit Freundlichkeit begegnen. Ein anderer Teil wird diese Freundlichkeit als Schwäche verstehen und sie für eigene Zwecke nutzen.
Wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten gesehen, dass eine demokratische und pluralistische Gesellschaft Leitplanken benötigt. Bei Menschenfeindlichkeit, Rassismus oder Antisemitismus müssen Grenzen gezogen werden. Beim Thema Antisemitismus geriet Claudia Roth deshalb in die Kritik. Ihr Zögern zur Documenta15 dauerte zu lange. Zunächst beschwichtigte sie und warnte vor voreiligen Schlüssen (siehe SPIEGEL-Artikel vom 11.06.2022) und gab dann zwei Monate später zu, dass es ein Problem gab. Antisemitische Darstellungen dürften durch den Verweis auf die Herkunftsländer der Künstler nicht relativiert werden (Stern vom 10.08.2022). In dem Interview hieß es »Antisemitismus ist und bleibt Antisemitismus, ob in Indonesien, in der Türkei oder sonst wo«.
Sie hat auch die Haltung von Roger Waters glasklar analysiert (Jüdische Allgemeine 09.02.2023), aber dann auch auf die »Eigenverantwortung« des Publikums verwiesen:
Roger Waters ist mittlerweile offenkundig zu einem aktiven BDS-Unterstützer und darüber hinaus Verschwörungstheoretiker geworden. Als Kulturstaatsministerin kann und will ich kein Konzert verbieten.
Konsequenzen sollen so aussehen:
Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deshalb würde ich mir wünschen, dass Veranstalter darauf verzichten, Konzerte mit Roger Waters durchzuführen, und wenn sie dennoch stattfinden sollten, dass er vor leeren Hallen spielt.
In einer idealen Gesellschaft ist diese Idee gar nicht schlecht. Da alle informiert sind über den Künstler, geht niemand hin. Es ist aber genau umgekehrt. Weil seine Zuschauer seine Haltung schätzen, gehen sie hin. Aber zurück zu Claudia Roth. Ihre abwartende und abwehrende Haltung wurde ihr von der Community letztendlich angekreidet. Wer sich öffentlich gegen Antisemitismus ausspricht, sollte auch entsprechende konsequent handeln. Dass aktives Handeln nicht immer gleich das Ergebnis einer Rede ist, die Antisemitismus geißelt, ist dabei natürlich keine exklusive Domäne von Claudia Roth. Aufgrund der Vorkommnisse war sie jedoch ein Symbol für die Inkongruenz von Wort und Tat geworden. Das hatte Auswirkungen.
Das Jewrovision-Debakel
Am 19.05.2023 trat Claudia Roth an das Mikrofon in der Frankfurter Festhalle und sprach zu den Jugendlichen der Jewrovision ihr Grußwort. Oder eigentlich: Das war ihr Plan. Aus dem Publikum waren jedoch immer wieder Buhrufe zu hören. Plakate wurden gezeigt, auf denen die Anwesenden signalisierten, dass sie die Anwesenheit von Claudia Roth nicht sonderlich schätzten. Davon gibt es eine Videoaufzeichnung (YouTube). Die Schilder sind auf der Videoaufzeichnung nicht zu sehen, aber Claudia Roth, die sich erstaunlich gut schlägt und auch die Buhrufe kurz kommentiert. Sie bringt ihre Rede zu Ende. Inhaltlich bleibt die Rede im Allgemeinen und geht mit keiner Silbe darauf ein, was die Community in den letzten Monaten bewegt hat: Vom Antisemitismus in der Kultur sagte sie nichts. Eine vertane Chance. Die Buhrufer haben – überraschenderweise – den Krümel einer Kontroverse erzeugt.
Für eine große Kontroverse reichte das nicht aus: Jugendliche, von denen einige gegen etwas sind. Ist das nicht ihre Aufgabe? Gegen das Establishment zu sein?
Was dann aber passierte, war größer als das eigentliche Ereignis:
Die Buhrufe wurden zum Anlass für eine Kampagne genommen.
Keine gegen Claudia Roth, sondern gegen den Veranstalter, den Zentralrat der Juden. Der Zwischenfall sei inszeniert gewesen. Die Abläufe wurden zudem ein wenig dramatisiert. Von einer »orchestrierten« Aktion war plötzlich die Rede. Matthias Meisner frug in der taz (vom 21.05.2023), ob es sich um eine »Abrechnung auf offener Bühne« handelte. Die Buhrufe seien von einer »konservativen jüdischen Nichtregierungsorganisation« geteilt worden. Der Twitternutzer »Daniel Eliasson« wird zu einem »grünen Kommunalpolitiker befördert. Sein Tweet bietet jedoch einen guten Aufhänger, um von einer »Kampagne« zu sprechen: Von der Sprecherin der »Werteinitiative« Anna Staroselski heißt es, sie startete Claudia Roth gegenüber eine »…Kampagne gegen sie und ist sich nicht zu schade, jüdische Kinder für ihre Propaganda einzuspannen.« (Tweet hier). Der taz-Artikel entfaltet Wirkung. Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin verlinkt den Artikel und schreibt »Die Vorgeschichte zu einem inszenierten Eklat gegen Claudia Roth« (@JTrittin auf Twitter, hier). Man beachte, dass es jetzt der »inszenierte Eklat gegen Claudia Roth« ist und keine Burhrufe von Jugendlichen. Ab jetzt war der Zentralrat mitgemeint. Eine Verschwörung, wenn man so will. In Kurzform: Claudia Roth sei nur eingeladen worden, um sie ausbuhen zu können. Das sei der Grund für die Einladung gewesen. Wie Zentralratspräsident Josef Schuster jedoch am 25.05.2022 in der Jüdischen Allgemeinen kommunizierte (Artikel hier), lud der Zentralrat Claudia Roth ein, weil sie darum gebeten hatte. Aber die Rede vom gewollten Eklat war in der Welt. Eine ordentliche Beweiskette konnten weder Matthias Meisner, noch »Daniel Eliasson« oder Jürgen Trittin aufbauen.
Die vergiftete Forderung von Solidarität
In der anschließenden Kommunikation legte ein Sprecher von Claudia Roth Wert darauf zu erwähnen, dass sie »ein sehr gutes Verhältnis zu sehr vielen Menschen« habe, die »das jüdische Leben in Deutschland repräsentieren und prägen«, als hätte das jemand ernsthaft hinterfragt oder ihr gar Antisemitismus vorgeworfen. Marc Grünbaum, Mitglied des Vorstands der Frankfurter Gemeinde, sagte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (28.05.2023, hier), dass diese Freunde »es nicht schaffen, ihr klarzumachen, worin das Problem in ihrer Politik und in ihrem Auftreten liegt.« Auf die Nachfrage nach dem konkreten »wem« antwortet Marc Grünbaum »unter diesen Freunden ist aber sicher der Pianist Igor Levit.« Dieses kleine Detail hat er offensichtlich gut beobachtet, denn Igor Levit wird uns gleich wieder begegnen.
Am 26.05.2023 twittert Dr. Meron Mendel:
Die Buh-Rufe gegen Claudia Roth beim jüdischen Musikwettbewerb war eine orchestrierte Aktion. Protest ist das eine, die niedergebrüllte Rede eines geladenen Gastes etwas anderes. Zum Eklat haben wir heute eine Stellungnahme veröffentlicht.
Es ist wichtig, auf das Framing zu achten, das mit der Wortwahl geschaffen wird: Aus den Buhrufen ist eine »niedergebrüllte Rede« geworden. Eine aggressive Aktion. Dr. Mendel weiß, was er schreibt, er betreibt politische Bildung. Ganz nebenbei wiederholt er die Rede von der Inszenierung des Vorfalls und nennt ihn eine »orchestrierte Aktion«. Die Stellungnahme, von der Dr. Mendel spricht, wurde am 25.05.2023 in zahlreichen Medien zitiert, aber kaum irgendwo fand sich ein Link zum Originaldokument (hier). Wer der Initiator oder die Initiatorin war, kann nicht gesagt werden. Der Text wiederholt jedoch den Vorwurf gleich im ersten Satz: »Claudia Roth ist beim jüdischen Musikwettbewerb „Jewrovision“ von Aktivisten orchestriert ausgebuht worden.« Aus den Jugendlichen wurden Aktivisten und der neue Dreh in der Kommunikation klar: »Schuster verstieß nicht zuletzt gegen das wichtige Gebot im Judentum, den anderen nicht bloßzustellen (Halbanat Panim).« (hier). Des Weiteren bewahre man sich davor, dass nun alle Medien schrieben, »die Juden« fühlten sich durch Claudia Roth nicht ernst genommen. Weiter heißt es »Claudia Roths politische Biographie kündet unmissverständlich vom lebenslangen Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus.« Da dies nirgends angezweifelt wurde, könnte sie vor diesem Vorwurf in Schutz genommen werden, damit der Eindruck entsteht, er sei erhoben worden. Kein ungeschickter rhetorischer Move.
Dann heißt es: »Viele Juden gestalten in Deutschland den Kulturbetrieb mit – es muss liberaler Konsens bleiben, dass Religionsgemeinschaften keinen Einfluss darauf nehmen.« Das übersieht natürlich, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland keine religiöse Einrichtung ist, sondern der Dachverband der Jüdischen Gemeinden.
Weiter:
Das Judentum lebt seit jeher von Vielstimmigkeit, Pluralismus und Debatte. Mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Juden gehört keiner jüdischen Gemeinde an, sie verstehen sich als säkular oder lehnen die partikularistische Politik des Zentralrats ab.
Dieser Satz ist der interessanteste des gesamten Dokuments, denn er zeigt auf das eigentliche Interesse der Verfasser: Es geht um den Zentralrat. Dazu, die (häufig gehörte) und unbelegte Behauptung, mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Juden gehöre gar keiner jüdischen Gemeinde an. In einem Nebensatz wird behauptet, die Politik des Zentralrates sei »partikularistisch«. Das meint: eine kleine Gruppe setzt einem größeren Ganzen gegenüber ihre Interessen und Rechte vorrangig durch. Es wird also behauptet, die meisten Jüdinnen und Juden würden durch den Zentralrat nicht repräsentiert und ihre Interessen durch diesen übergangen. Ja, die meisten Jüdinnen und Juden lehnten die »Politik« des Zentralrats ab (der soeben noch eine religiöse Organisation war).
Diese Quantifizierung ist spannend. Wir dürfen gespannt sein, auf welchen Zahlen und Erhebungen sich diese Aussage stützt. Wer hat diese Zahlen erhoben? Aus welchen Umfragen stammen sie? Wo sind sie zugänglich?
Die Solidaritätsbekundung zu Claudia Roth gerät zu einer Abrechnung mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, dem hier bescheinigt wird, er könne sich nicht zu den Belangen aller Jüdinnen und Juden äußern.
Das ist umso spannender, als dass auch Personen diesen Aufruf unterzeichnet haben, die nicht gerade als ausgesprochene Kritiker des Zentralrats bekannt waren, wie Adriana Altaras, Shai Hoffmann, Sergey Lagodinsky, Michael Naumann (der eigentlich kein Jude ist) oder Julius Schoeps. Der, schon genannte, Igor Levit ist auch darunter. Dr. Meron Mendel natürlich auch. Beide keine seltenen Gäste in den Feuilletons des Landes.
Der Vorfall in Frankfurt wurde genutzt, um diesen Standpunkt der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wohl deshalb wurde er auch etwas größer gemacht, als er tatsächlich war. Wenn es eine Kampagne gab, dann nicht seitens des Zentralrats, sondern aus anderer Richtung.
Wir blicken also auf einen Konflikt, der Claudia Roth nicht betrifft, sondern das Selbstverständnis jüdischer Akteure. Sie wollen nicht, dass der Zentralrat für sie spricht. Als Interessenvertretung der Jüdischen Gemeinden tut er das auch nicht und allein aus der Tatsache heraus, dass viele der Unterzeichnenden bekannte Namen tragen, kann abgelesen werden, dass ihre Meinungen nicht unter den Tisch fallen. Sie haben Zugang zur Öffentlichkeit oder sind selber Multiplikatoren.
Es spricht nichts dagegen, wenn Freunde Freunden gegenüber (Igor Levit ist anscheinend mit Claudia Roth befreundet, einige weitere Unterzeichner ebenfalls) ihre Solidarität ausdrücken, aber diese bewusste Eskalation gegen jüdische Jugendliche ist schon ein bemerkenswerter Vorgang.
Die Solidaritätsadresse mag Claudia Roth auf den ersten Blick gefallen und sie bestärken. Auf den zweiten Blick ist sie hier nur Werkzeug, um auf die Unterzeichnenden zu zeigen.
Diese Vorgänge sollten in den Feuilletons stattfinden und sich an Themen abarbeiten. Hier wurde das Mittel der Inszenierung gewählt und aus einem Vorfall ein Politikum gemacht. Über das eigentliche Thema wurde nicht gesprochen, mit den jungen Leuten auch nicht. Wenn Claudia Roth sich mit Vertretern derjenigen zusammengesetzt haben wird (vielleicht tut sie das), die gebuht haben, wird das ein guter Schritt sein und etwas Produktives hervorbringen. Was darauf, auf Betreiben Dritter, folgte, wird länger nachwirken.