Juden in Deutschland – (k)eine nationale Minderheit?

Papdam (Frankfurt am Main) - Ortsschild

Seit 1997 gibt es in der »Sammlung der Europäischen Verträge« den Vertrag mit Nummer 157: Das »Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten«. In Deutschland betrifft das die dänische Minderheit, die friesische Volksgruppe, die deutschen Sinti und Roma und die Sorben. Dieses Rahmenabkommen soll sicherstellen, dass »nationale Minderheiten« nicht gegen ihren Willen assimiliert werden. So dürfen in Gebieten mit sorbischer Bevölkerung entsprechende sorbische Schilder aufgestellt werden, die Muttersprache in der Schule erlernt werden oder Namen verwendet werden, die sonst durch Ämter des jeweiligen Landes eigentlich nicht anerkannt werden würden (siehe den Text des Rahmenübereinkommens). Sogar die Fünfprozentklausel, nach der bei Bundestagswahlen bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten nur die Parteien berücksichtigt werden, die mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten oder die in mindestens drei Wahlkreisen ein Direktmandat errungen haben, gelten für Parteien der nationalen Minderheiten nicht. Der »Südschleswigsche Wählerverband« ist bekanntlich im Bundestag vertreten.

Wie wird das definiert?
In Deutschland gilt eine Gruppe als nationale Minderheit, wenn sie folgende Kriterien erfüllt (laut einer Broschüre des Bundesministeriums des Innern, hier):

  • die Mitglieder der Gruppe sind deutsche Staatsangehörige,
  • die Gruppe hat eine eigene Identität (Sprache, Kultur, Geschichte)
  • diese Identität soll bewahrt werden
  • die Gruppe ist traditionell auf dem Bundesgebiet zuhause
  • die Mitglieder der Gruppe leben innerhalb Deutschlands in angestammten Siedlungsgebieten

Moment mal! Ist nicht auch die jüdische Gemeinschaft eine ethnische Gruppe? Genau. Da ist sie. Da liegt es doch nahe, dass auch die jüdische Gemeinschaft eine nationale Minderheit sein könnte? Jetzt mal abgesehen von den »angestammten Siedlungsgebieten« (Schum-Städte? Berlin? Frankfurt am Main? Köln, über 1.700 Jahre?)

Bevor diese Frage beantwortet wird, gehen wir vorher einen Schritt zurück: Das »Judentum« wird in Deutschland als Religion betrachtet. Da dieser Begriff zu kurz greift und falsche Dinge impliziert, entstehen viele Kontroversen genau durch diese Betrachtung:
Wer bestimmt, wer dazu gehört?
Was ist mit Jüdinnen und Juden, die nicht religiös sind?
Gehören sie nicht der jüdischen Gemeinschaft an?
Verlässt jemand, der seine Gemeindemitgliedschaft aufgibt (das soll vorkommen), auch das Judentum oder die jüdische Gemeinschaft?
Vielen Jüdinnen und Juden fallen Antworten zu diesen Fragen ein. Aber diese Antworten gehen über den Rahmen hinaus, den Nichtjuden als Religion verstanden wissen wollen. Also doch keine Religion? Jein. Auch der Begriff Religionsgemeinschaft passt nicht vollkommen. Warum ist die jüdische Gemeinschaft dann eine Religionsgemeinschaft in Deutschland?
Hat es vielleicht mit der Schoah zu tun? Wollte der deutsche Staat sichergehen, dass die jüdische Gemeinschaft auf gar keinen Fall als Gruppe wahrgenommen wird, die sich durch bestimmte Merkmale von anderen Gruppen unterscheidet?

Wäre die jüdische Gemeinschaft eine nationale Minderheit, würde sich in einigen Bereichen nicht viel ändern: Jüdische Schulen gibt es bereits, aber nicht nur jüdischer Religionsunterricht könnte in öffentlichen Schulen stattfinden. Aber es könnte dann auch Sprachunterricht (Hebräisch? Jiddisch?) erteilt werden. Jüdinnen und Juden könnten sich organisieren – auch ohne Bezug zu observantem jüdischen Leben (observant, um das Wort religiös zu vermeiden). Endlich könnte die »Jüdische Volkspartei« Realität werden!
Nationale Minderheiten bestimmen jedoch nicht, wer eigentlich zu ihnen gehört. Dazu reicht eine Erklärung der betroffenen Person.

Warum? Aus welchem Grund ist die jüdische Community keine Nationale Minderheit?

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Denn selbst das Bundesministerium des Innern (BMI) kann diese Frage nicht beantworten. Auf meine Anfrage teilte mir das Ministerium mit:

Laut den Monitoringberichten der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 25 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten wird die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nicht als nationale Minderheit, sondern als Glaubensgemeinschaft betrachtet (Murswiek in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2012, § 213 Schutz der Minderheiten in Deutschland, Buchst. A, Rn. 19; Hofmann in: Hofmann, Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten in Deutschland, Rn. 3; Erster Bericht der Bundesrepublik Deutschland (2000), S. 16).

Antwort des Bundesministeriums des Inneren auf eine Anfrage bezüglich des Minderheitenstatus der Jüdischen Gemeinschaft in Deutschland

Wann wurde das konkret entschieden? Das ist unbekannt, denn dazu gibt es keine Aufzeichnungen:

Es ist davon auszugehen, dass diese Einschätzung im Rahmen der Konsultationen der Bundesregierung im zeitlichen Vorfeld der Ratifikation des o.g. Rahmenübereinkommens getroffen wurde, ein schriftlicher Beleg ist insoweit allerdings nicht aktenkundig.

Antwort des Bundesministeriums des Inneren auf eine Anfrage bezüglich des Minderheitenstatus der Jüdischen Gemeinschaft in Deutschland

Wäre es nicht interessant, das zu diskutieren? Diese Initiative kann nur von der jüdischen Gemeinschaft ausgehen. Das BMI schreibt:

Der Zentralrat der Juden in Deutschland (ZdJ) hat kürzlich jedoch in anderem Zusammenhang bestätigt, dass das Thema dort bisher kein Gegenstand von Debatten gewesen sei und es daher aktuell auch keine Positionierung in diese Richtung gebe.
Eine Anerkennung als nationale Minderheit wird vom ZdJ derzeit also nicht angestrebt. Eine klare Positionierung des ZdJ – als größtem Dachverband jüdischer Gemeinden und größter Interessenvertretung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland − wäre aber Voraussetzung und Ausgangspunkt für weitere Überlegungen.

Antwort des Bundesministeriums des Inneren auf eine Anfrage bezüglich des Minderheitenstatus der Jüdischen Gemeinschaft in Deutschland

Die Antwort auf die Frage aus der Überschrift »Juden in Deutschland – eine nationale Minderheit?« muss also eine jüdische sein: Entweder: Vielleicht. Oder ein klares Ja, aber.
Im Selbstbild vielleicht.
Die Religionsgemeinschaft könnte der beste Kompromiss sein. Kommen müsste eine Diskussion – sofern der Bedarf überhaupt besteht – aus der Gemeinschaft selbst – das steht fest.

Von Chajm

Chajm ist nicht nur Autor dieses Blogs und Bewohner des Ruhrgebiets, sondern auch Herausgeber von talmud.de und Organisator des Minchah-Schiurs im Ruhrgebiet. Einige seiner Artikel gibt es nicht nur im Internet, sondern beispielsweise auch in der Jüdischen Allgemeinen. Über die Kontaktseite kann man Chajm eine Nachricht senden. Man kann/soll Chajm auch bei twitter folgen: @chajmke. Chajms Buch »Badatz!« 44 Geschichten, 44 zu tiefe Einblicke in den jüdischen Alltag, gibt es im Buchhandel und bei amazon. Sein Buch »Tzipporim: Judentum und Social Media« behandelt den jüdischen Umgang mit den sozialen Medien. || Um per Mail über neue Beiträge informiert zu werden, bitte hier klicken

5 Kommentare

  1. Lieber Chaim,
    sehr interessant, dein Blog über “nationale Minderheiten”.
    Leider gehöre ich nicht zur Gemeinschaft, ich würde mich sonst sehr gern an der Diskussion beteiligen. Wie aus der letzten Antwort des Bundesinnenministeriums des Inneren auf deine Anfrage hin ersichtlich, wird eine diesbezügliche Anerkennung seitens des ZdJ nicht angestrebt.
    Das ist schade und unterbricht auch die Diskussion “was würde das effektiv bringen, die Anerkennung als “nationale Minderheit”? Wäre das nicht wieder irgendeine weitere überflüssige Stigmatisierung, die letztlich überhaupt nichts bringt? Ausser vielleicht eine eigene Partei, die dann im Bundestag vertreten ist? Die drei Parteien der Ampelkoalition im Bundestag haben doch schon genug miteinander zu kämpfen und je mehr Parteien in einem Regierungsbündnis sind, desto besser wird das Regieren doch auch nicht.
    Danke und liebe Grüße aus Düsseldorf,
    Michaela

    1. Die Partei war ja jetzt das extremste Beispiel. Vorrangig ging es um die »Privilegien« (Namen der eigenen Kultur tragen zu dürfen, Schulunterricht (der über den reinen Religionsunterricht hinaus geht), Brauchtumspflege etc.

  2. Hallo Chaim,
    toller Artikel, auch viel dabei gelernt.
    Der letzte Punkt “angestammten Siedlungsgebieten” trifft meiner Meinung nach jedoch nicht auf uns Juden zu, zumindest nicht heute. So sind wir doch recht breit in Deutschland verteilt, nirgendwo stellen wir einen besonders hohen Anteil der Bevölkerung, vermutlich findet sich keine Stadt/Gemeinde, in der wir auch nur 5% der ausmachen?!
    Liebe Grüße
    Adrian

    1. Danke für die Rückmeldung!
      Das Ding ist, es trifft auch auf mindestens eine andere Gruppe auch nicht zu 😉 Das soll wohl so verstanden werden, dass entsprechende Gruppe »schon immer« in Deutschland lebt. Anscheinend möchte man verhindern, dass »neue» Gruppen diesen Status erhalten können. Es hat wohl auch wenig mit dem Anteil an der Bevölkerung zu tun. So lese ich das derzeit jedenfalls.

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