Vermeer und eine jüdische Sicht

Am 10. Februar 2023 eröffnet im Amsterdamer Rijksmuseum eine große Schau der Bilder von Johannes Vermeer. Dessen Bildern kann man sich nur schwer entziehen: Stille. Licht und eine Art der Präsentation, die ihrer Zeit voraus war.

Wie bei den meisten großen »Events« könnte man sich fragen: Gibt es einen jüdischen Bezug?
Gibt es Bilder von Vermeer, die eine jüdische Szene oder eine jüdische Person aus dem Delft seiner Zeit zeigen?
Diese Fragen kann man wohl sicher verneinen. Rembrandt hat jüdische Personen gemalt, Vermeer hat weder Szenen aus jüdischen Häusern gemalt, noch Szenen aus der Bibel – die ja durchaus gängige Motive waren.

Aber!

Zwei seiner Bilder, die zweifelsohne Bezug aufeinander nehmen, illustrieren jedoch etwas, was Rabbiner Joseph Soloveitchik (1903-1993), auch genannt »The Rav« in seinem Aufsatz »The lonely Man of Faith« beschrieben hat. Betrachten wir zunächst die Bilder. »Der Geograf« und »Der Astronom«.

Der Geograf

Johannes Vermeer – Der Geograph
Johannes Vermeer – Der Geograf

Das Gemälde zeigt einen »Geografen« in seinem Arbeitszimmer. Er trägt einen japanischen Morgenmantel. Die Karte, die im Hintergrund hängt, ist unklar, vielleicht sind es die Küsten Europas. Der Globus auf dem Schrank soll von Jodocus Hondius oder seinem Bruder Hendrick stammen. Das hat die Forschung zu diesem Bild schon recht gut identifiziert. Er steht gebeugt über einer Karte und scheint Entfernungen abmessen zu wollen. Er, der Geograf, versucht, die Welt, in der er lebt, zu vermessen und zu beschreiben.

Der Astronom

Johannes Vermeer – Der Astronom
Johannes Vermeer – Der Astronom

Das Gemälde zeigt einen »Astronomen« (ja, die Ähnlichkeit der Männer ist offensichtlich), der einen Himmelsglobus studiert. Auch von diesem heißt es, er stamme von Jodocus Hondius. Auf dem Arbeitstisch liegt »Institutiones Astronomicae et Geographicae« von Adriaan Metius (1621). Aufgeschlagen soll Buch III sein (schreibt James Welu). Für uns in diesem Augenblick interessant: In diesem Kapitel rät Metius, sich neben mechanischen Instrumenten und geometrischen Kenntnissen auch auf die Inspiration durch G-tt zu verlassen. Das Gemälde an der Wand ist auf Reproduktionen schwer zu erkennen. Aber Jonathan Janson hat es auf essentialvermeer.com identifiziert, oder sagen wir, er schreibt darüber, welches Bild gezeigt wird: Es zeigt, wie die Tochter des Pharao Mosche aus dem Wasser holt. Die Rettung von Mosche führte zur Rettung des jüdischen Volkes. Natürlich die Grundlage für die Gabe der Torah.

Während der Astronom versucht, Dinge zu begreifen, die über unseren unmittelbaren Schöpfungsbereich hinausgehen, und unseren Platz im großen Kosmos zu verstehen, versucht der Geograf, die Welt, in der er lebt, zu quantifizieren und zu charakterisieren. Der Astronom schlägt zudem eine Brücke zu Mosche und der »großen Geschichte« der Torahgebung.

Und Rabbiner Soloveitchik?

Rabbiner Joseph Soloveitchik versteht die Tatsache, dass es zwei Schöpfungsgeschichten gibt (siehe auch hier) so, dass es sich um zwei »Typen« von Mensch handelt. Ein Mensch wurde mit zwei Anlagen erschaffen: Adam I und Adam II (oder für Profis Adam Rischon und Adam Scheni). Der eine Mensch sucht nach G-tt und erkennt sein Alleinsein im Universum und der andere Mensch beherrscht die Erde und baut weiter an ihr. Er interessiert sich zwar dafür, wie sie funktioniert, aber nur, um dies für sich zu nutzen. Der andere Mensch sieht, wie sie funktioniert und fragt Warum?

Adam I wird zusammen mit Chawa nach dem Bilde G-ttes erschaffen worden und hat den Auftrag, die Natur und die Welt Untertan zu machen. Adam I ist derjenige, der die Welt beherrscht und alle Beziehungen seinerseits werden funktional, pragmatisch im Rahmen dieser Aufgabe gesehen, um Arbeit zu teilen und den Fortbestand zu erhalten. Auch die Beziehung zu G-tt ist eher utilitaristisch geprägt. Er baut auf: durch die Eroberung des Weltalls, sein Wissen, moderne Technologie und kulturellen Fortschritt.

Adam II der Mann/Mensch des Bundes, der Hüter des Gartens, der aufpasst und bewahrt. Erst durch das Eingreifen G-ttes wird aus dem eingeschlechtlichen Adam ein zweigeschlechtlicher zur Erleichterung seiner existentiellen Einsamkeit. Nach dem Bilde G-ttes geschaffen zu sein, reicht nicht mehr aus, der Lonely Man of Faith fragt nach dem Sinn des Lebens und strebt nach Erlösung. Beide Typen seien in jedem Menschen angelegt und beide will der Mensch gerne vereinen.

Die beiden Bilder von Johannes Vermeer sind die perfekte Illustration dessen. Vor allem vor dem Hintergrund, dass wir anscheinend die gleiche Person auf den Bildern sehen. Falls jemand die Bilder vor Ort sieht, erinnert sich vielleicht daran.

Die Ausstellung im Rijksmuseum, die schon vor Beginn 200.000 Tickets verkauft hat, läuft bis zum 4. Juni in Amsterdam.
Wer tief und atmosphärisch eintauchen möchte, sollte sich diese beeindruckende Einführung auf rijksmuseum.nl anschauen und anhören. Stephen Fry erzählt etwas über Vermeer und seine Bilder und schaut genauer hin.

Von Chajm

Chajm Guski ist nicht nur Autor dieses Blogs und Bewohner des Ruhrgebiets, sondern auch Herausgeber von talmud.de und Organisator des Minchah-Schiurs im Ruhrgebiet. Einige seiner Artikel gibt es nicht nur im Internet, sondern beispielsweise auch in der Jüdischen Allgemeinen. Über die Kontaktseite kann man Chajm eine Nachricht senden. Man kann/soll Chajm auch bei twitter folgen: @chajmke. Chajms Buch »Badatz!« 44 Geschichten, 44 zu tiefe Einblicke in den jüdischen Alltag, gibt es im Buchhandel und bei amazon. Sein Buch »Tzipporim: Judentum und Social Media« behandelt den jüdischen Umgang mit den sozialen Medien. || Um per Mail über neue Beiträge informiert zu werden, bitte hier klicken

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