In einer fiktionalen Welt würde ein großes Interview – in einem der reichweitenstärksten Magazine des Landes – eine große Diskussion mit einem Knall beenden. Keine Fragen wären übrig. Alle Kritiker beschämt. Alle enttäuschten Fans versöhnt. Die – jetzt folgende – Wendung in diesem Text hier war erwartbar: Wir leben natürlich nicht in einer fiktionalen Welt. Weniger erwartbar war, dass Dr. Max Czollek im November dem SPIEGEL ein Interview gegeben hat und sein Interview nicht dazu genutzt hat, Kritiker und Freunde zu überraschen. Das Interview ist übrigens betitelt mit »Maxim Biller und ich sind uns so ähnlich wie ein Nackensteak und eine Fleischtomate«. Ist ein Nackensteak nicht immer vom Schwein? Aber das nur am Rande.
Wir spulen ganz kurz zurück (die gesamte Diskussion hier):
Als er in (s)einem Tweet den Inhalt eines privaten Gesprächs mit dem Autoren Maxim Biller offengelegt hat – vielleicht aus Kränkung – konnte er die folgende Entwicklung anscheinend nicht vorhersehen und die entstehende Dynamik nicht erkennen. Bei knapp 37.000 Followern bei Twitter allerdings verwunderlich, dieses Werkzeug der Massenkommunikation so zu unterschätzen. Im SPIEGEL-Interview sagt er übrigens, es folgte ein »Shitstorm«, der »durch die Printmedien und Radiostationen fegte«. Er meinte die öffentliche Diskussion, die er angestoßen hatte: »Patrilinearität« sagte plötzlich auch nichtjüdischen Kulturredakteuren etwas. Kaum ein überregionales Blatt wollte auf einen Bissen vom »Jüdische-Identität-Bagel« verzichten.
Eine Diskussion über Vaterjuden?
»Patrilinearität« war das Label, dass sich Czollek in seinem Tweet mit dem Hashtag verpasste. Nur: Das Label passte nicht zu ihm. Das war zuvor kein großes Thema, aber durch sein Aufgreifen dann doch eines und leider wurden auch hier Details veröffentlicht. Das stand am Ende der Diskussion um Patrilinearität – bei der es nicht immer um nur um Max Czollek ging – auch wurde hitzig über die Töchter und Söhne von jüdischen Vätern (ohne jüdische Mutter) diskutiert – als sei das Thema neu für die jüdische Community in Deutschland.
Dem hält Max Czollek im Interview trotzig entgegen: »Ich bin Jude«. Natürlich kann er das sagen, aber er muss dann aber auch die Definition mitliefern, wer denn nun Jüdin oder Jude ist. Eines ist der Community klar: Eine Selbstdefinition reicht nicht aus. »Ja, na klar fühle ich mich jüdisch« mag für das eigene Befinden ausreichen – im Zusammenspiel mit anderen Jüdinnen und Juden gelten dann aber Absprachen.
Die Dramaturgie des Interviews im SPIEGEL sieht das sogar vor. Der Redakteur Tobias Becker (der Czollek seit 2018 kennt) fragt nach:
Wie lautet denn Ihre Definition?
Und Czollek antwortet:
Das jüdische Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk, dessen Stipendiat ich war, fördert die ganze Vielfalt jüdischer Realitäten, was natürlich über die Halacha hinausgeht.
Zur Verdeutlichung: Es geht um eine Definition.
Wenn also Naturwissenschaftler A sagt: »Dieses Ergebnis entspricht der Definition« und Wissenschaftler B fragt zurück: »Wie lautet die Definition?« – dann ist die Antwort »Wissenschaftler C sieht es wie ich« keine ausreichende Begründung. Der Verweis auf das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk, dessen Stipendiat Czollek war und in dessen Beirat er heute sitzt, sagt eigentlich nichts.
Interviewer Tobias Becker arbeitet mit und bereitet schon über die Frage ein gewisses Setting sorgfältig vor, denn er fragt nach traditionellen jüdischen Definitionen (und nicht unbefangen nach einer jüdischen):
Nach traditioneller halachischer Definition war schon Ihr Vater kein Jude.
Hier kommen wir zu einem Punkt, den man zunächst für ein Missverständnis halten könnte: Max Czollek geht davon aus, dass die jüdische Zivilisation (diese Definition von Mordecai Kaplans Definition des Am Jisrael ist nicht unattraktiv, man könnte auch mit Rabbiner Steinsaltz schreiben »Familie«) in eine religiöse und eine kulturelle Sphäre zerfällt. Dabei übersieht er, dass das Konzept von Religion auf das Judentum nicht uneingeschränkt anwendbar ist (und eigentlich eine christliche Kategorie ist).
Wenn man aber ihm jedoch aufmerksam zuhört, dann könnte es auch Programm sein:
Ich habe nie probiert, Teil einer Gemeinde und damit Teil des religiösen Judentums zu werden. Und plötzlich treten Leute auf und halten mir die religiöse Definition vor, als sei das die einzige jüdische Lebensrealität in Deutschland. Sie ist es nicht. Ich komme aus einer Familie, für deren jüdischen Teil der Zentralrat nie eine Rolle gespielt hat, denn der war ja in Westdeutschland.
Die Absicht dahinter scheint zu sein, eine Art von Establishment zu konstruieren gegen das aufgestanden werden muss. Moderne (progressive, nicht im Sinne von jüdisch-liberal) Jüdinnen und Juden gegen die konservativen, ja religiösen Jüdinnen und Juden. Ganz nebenbei wird angedeutet, dass es schlecht ist, sich der Halacha verpflichtet zu fühlen.
Und warum?
Weil die Halacha, laut Czollek, ein »sehr religiöses« Gesetz ist und wer sich der Halacha verpflichtet fühlt, der scheint Homosexuelle steinigen zu wollen:
Die Halacha regelt zum Beispiel auch, welche Konsequenzen Homosexualität haben sollte. Nämlich die Todesstrafe. Die Halacha ist ein sehr religiöses, sehr konservatives Gesetz, mit dem man modern umgehen sollte.
Der Satz demonstriert – ziemlich eindrücklich – dass Czollek entweder nicht sonderlich viel über die Halacha weiß, oder sie absichtlich falsch und verkürzt darstellt. Da könnte er eigentlich den Direktor des genannten Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk fragen, der in diesen Tagen das Vorwort für ein Buch mit dem Titel »Jüdisches Religionsgesetz heute« verfasst hat (»Religionsgesetz« ist das nichtjüdische umschreibende Wort für Halacha). Vielleicht ist die Todesstrafe für Homosexualität ja in dem Buch Thema. Mit seiner Beschreibung der Halacha als konservativem, ja anscheinend grausamen, Gesetz könnte man auch an die (immer seltener werdende) christliche Verzerrung des »jüdischen Gesetzes« denken. Nicht freundlich.
In der folgenden Diskussion wurden von den Redaktionen Vertreter aller Richtungen angefragt. Einige sprachen sich leidenschaftlich für Max Czollek aus. Andere sprachen überhaupt nicht über ihn und ausschließlich über die Debatte zur Patrilinearität und wiederum andere nutzten das Thema um über sich selber zu sprechen. Die Wahrnehmung Czolleks ist also etwas verengt:
Wenn eine nichtjüdische deutsche Medienöffentlichkeit vor allem religiös argumentierenden Stimmen Raum bietet, dann macht sie die Anerkennung der neuen jüdischen Lebendigkeit schwerer, als es sein müsste.
Wer die Liste mit allen Beiträgen zur Debatte aufmerksam durchgeht (hier zu finden), wird feststellen, dass diese Beobachtung nicht zutreffend ist. Sie ist eine geschickte Konstruktion, mit deren Hilfe sich Czollek zum Sprecher dieser neue jüdischen Lebendigkeit (es gibt anscheinend auch eine alte) macht. Aber diese neue Lebendigkeit definiert sich ausschließlich selber und einige (!) der Initiativen werden übrigens auch durch den Zentralrat mitfinanziert. Ebenso verhält es sich mit dem Themenkomplex Patrilinearität. Durch den Hashtag hat er die Diskussion darüber für seine Zwecke genutzt. Dabei wäre es – ganz nebenbei erwähnt – interessant, den Betroffenen zuzuhören und ihnen die Möglichkeit zu geben, sichtbar zu werden. Vielleicht sollte man das Buch »Väter unser« von Ruth Zeifert an dieser Stelle erwähnen…
Wir erleben also keinesfalls eine Emanzipation neuer jüdischer Lebendigkeit. Wir erleben die Konstruktion eines neuen Judentums für die nichtjüdische Öffentlichkeit. Ein leicht zugängliches, nicht fremdes (das erklärt vielleicht, woher Philipp Gessler vom evangelischen Zeitzeichen-Magazin seine Idee eines Judentums hat, das nicht zu fremd und nicht zu halachisch ist). Eines, das Gedächtnistheater zurückweist, aber zugleich umgänglich ist. Ein wenig Revolution und Abgrenzung, aber viel Mitmachpotential für alle. Das Spannungsfeld von »Desintegration« als Befreiungsschlag von der Umklammerung des Jüdischen durch die deutsche Öffentlichkeit – in der deutschen Öffentlichkeit für diese Zielgruppe ist jedenfalls recht viel Bühne.
Czolleks Autorität für diese Position bezog er aus seiner Identität – die nun von Teilen der jüdischen Community eher kritisch betrachtet wird – siehe dazu auch den Beitrag von Jana Hensel in der ZEIT.
Das tragische Ergebnis eines Tweets
Dies alles ist das tragische Ergebnis eines einzigen Tweets an zahlreiche Follower, der eigentlich nur sagen wollte: »Hey, ich habe mit Maxim Biller gesprochen.« Seiner Popularität bei seinen Anhängern wird es nicht schaden, das SPIEGEL-Interview trägt aber nicht dazu bei, andere auf seine Seite zu ziehen. Es hat nun einige Journalisten und Feuilletonisten zum Widerspruch animiert. Wenn er seiner eigenen Beschreibung des jüdischen Lebens in Deutschland »(…) weil nicht nur die Gesellschaft pluraler wird, sondern auch das Judentum« folgt, müsste er diese Pluralität anerkennen und nicht einem Teil der Community bescheinigen, dass sie eine Agenda habe, nämlich »linke und progressive Positionen«, für die er stehe »an den Rand zu drängen«. Zirkelbezug (man kennt das auch Excel): Indem man seine Nichtdefinition dessen, was jüdische Identität ist, zurückweist?
Letztendlich ist es vielleicht so, dass es weniger um Patrilinearität oder ein neues lebendiges Judentum geht, sondern etwas mehr um die Festigung der eigenen Position und Sichtbarkeit?
Eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Das Interview war nicht der allerbeste Move für eine Beruhigung der Angelegenheit.