Lieber Phillipp, also ich denke, ich darf Philipp schreiben, immerhin hast Du den Jüdinnen und Juden in Deutschland (und dem Zentralrat der Juden in Deutschland) einen väterlichen Rat erteilt und das hat uns ja schon in eine Art Beziehung gebracht und was wäre das für eine Beziehung, wenn wir nicht auf Augenhöhe kommunizieren könnten? Du bist Redakteur des Magazins »Zeitzeichen« – des Kulturmagazins der evangelischen Kirche und es liegt doch nahe zu fragen, woher die Berufung kommt, Jüdinnen und Juden über ihre Tradition zu belehren?

Es gab einen Grund dafür, dass einige Vertreter aus der jüdischen Community gefordert haben, eine Diskussion über die Zugehörigkeit zum Judentum solle innerhalb der Community geführt werden und nicht über die Medien des Landes (Übersicht hier). Das Potential für Verletzungen und Missverständnisse ist schon innerhalb der eigenen Gemeinschaft recht groß, wenn dann noch Sprecher hinzutreten, die sich darab abarbeiten wollen, von welchem Judentum sie träumen, dann wird es unübersichtlich. Aber kommen wir zu Deinem Anliegen. Offenbar sorgst Du Dich darum, dass im Judentum die Prioritäten verschoben sind und rückst sie wieder zurecht und informierst uns darüber, warum das matrilineare Prinzip nicht mehr aktuell ist.

Es ist vormodern, schreibst Du. Jüdinnen und Juden mit Bezug zur Halachah sind nicht in der Moderne angekommen?

Das hatte in vormodernen Zeiten eine zwingende Logik, ist aber rein biologistisch und traditionell gedacht.

zeitzeichen.net

Dass es biologistisch gedacht ist, ist ein interessanter Vorwurf. Es könnte darauf hindeuten, dass Jüdinnen und Juden unterstellt wird, sie seien ausschließlich Anhänger (heute heißt das Follower) einer Religion. Das ist nicht richtig. Judentum ist auch Zugehörigkeit zum jüdischen Volk.

Es widerspricht dem heutigen Leben und einer kulturell-familiären Interpretation des Judentums, die in einer zunehmend säkularen jüdischen Gemeinschaft immer wichtiger wird.

zeitzeichen.net

Das ist ein interessant. Diese Interpretation ist gut, während eine andere schlecht ist. Welche sollte das sein, fragen wir uns. Danke, dass Du diese Frage beantwortest:

Der Zentralrat und die Gemeinden sollten sich auf diese gute Tradition berufen und sich ganz offiziell für „Vaterjuden“ öffnen, anstatt ängstlich auf orthodoxe Gruppen in Deutschland oder Israel zu schielen. Eine zu enge Auslegung religiöser Gesetze, die derzeit in allen Religionen weltweit eine Gefahr darstellt, sollte nicht die Richtschnur in einer auch religiös immer bunteren Gesellschaft sein.

zeitzeichen.net

Lesen wir das noch einmal genau:

  1. Der Zentralrat soll (gemeint ist wohl die jüdische Gemeinschaft), Deiner Meinung nach, eine andere Definition von »Wer ist Jude« anwenden. Was soll man dazu sagen? Das ist eine Angelegenheit der jüdischen Gemeinschaft. Ich sehe aber durchscheinen, dass Du Dir ein anderes, weniger religiöses, Judentum wünschst. Vielleicht, weil es nicht so anstrengend ist? Weil es nicht so fremd ist? Was passiert, wenn Jüdinnen und Juden das nicht tun?
  2. Die »zu enge Auslegung religiöser Gesetze« unterstellt Fundamentalismus – freilich ohne das Wort zu nutzen. Es ist nur freundlich formuliert. Wer also die Interpretation von Phillipp Gessler der Halachah nicht teilt, ist ein Hardliner? Die letzten 2.000 Jahre sind Jüdinnen und Juden mit dem Ausloten der halachischen Grenzen ganz gut alleine zurechtgekommen.
  3. Info: Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist keine religiöse Einrichtung – er ist der Dachverband der Jüdischen Gemeinden Deutschlands. Er ist kein rabbinisches Gericht und klärt keine Statusfragen.

Der Versuch der Kirchen, jüdische Inhalte zu korrigieren ist, historisch betrachtet, nicht immer so richtig gut gelaufen. Allein dieser Grund hätte ausgereicht, sich die Zeilen einfach zu verkneifen. Jüdinnen und Juden leben das Judentum und füllen es mit Sinn und Inhalt. Es ist keine Projektionsfläche.

Kommen wir noch zu einem Punkt:

Auch nach dem Holocaust fragte niemand in den jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik so genau nach, ob nun jemand eine  jüdische Mutter oder „nur“ einen jüdischen Vater habe – die glücklich überlebte Verfolgung durch die Nazis war Ausweis des Judentums genug, und das völlig zurecht.

zeitzeichen.net

Ich verkneife mir den Hinweis darauf, WER hier mit WEM über WAS spricht und WER das bewertet.

Da Du Dir ja Gedanken um das Judentum in Deutschland machst: Vielleicht könntest Du einfach in Deinem Einflussbereich etwas tun? Ja, ich weiß, es gibt diese »Juden sind nicht fremd« Kampagne der Kirchen. Das war alles nett gemeint, aber was, wenn Jüdinnen und Juden am Ende doch ihre eigene Meinung und Haltung zu den Dingen haben?
Vielleicht hast Du es schon gehört: Deutschland hat ein Antisemitismus-Problem. Das wird nicht so richtig ernstgenommen. Jüdinnen und Juden müssen sich damit beschäftigen, würden aber vielleicht einfach in Ruhe untereinander vollkommen banale Dinge diskutieren. Kirchenfassaden, auch die evangelischer Kirchen, zeigen noch antisemitische Abbildungen. Beginnen wir doch damit.

Und eines noch: Bitte nicht wieder.