Wir alle wissen vieles über »gute Absichten« und diejenigen, die in der Öffentlichkeit jüdisch unterwegs sind, können darüber vermutlich einige Geschichten erzählen. Die »guten Absichten« der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft beißen sich zuweilen mit dem Respekt (oder Nichtrespekt) vor denjenigen, die eigentlich Objekt der Absichten sind. Wenn etwa Jüdinnen und Juden geladen sind, aber es gibt keine entsprechenden Nachfragen bezüglich religiöser Anforderungen für Speisen, oder man legt Veranstaltungen auf jüdische Fest- oder Fastentage, oder man sagt halt selber, in Ermangelung einer jüdischen Gemeinde, jüdische Gebete – womöglich unter den Klängen von Klezmermusik.

Jüdischer Friedhof Borken - Replingsfunder

Jüdischer Friedhof Borken - Replingsfunder (Foto von Rabbiner Babaev)

So entschied die SPD Borken (schon im Mai – aber es ist einfach ein schönes Beispiel) anlässlich des 76. Jahrestags des Kriegsendes am 8. Mai 2021, ab 18 Uhr eine Gedenkveranstaltung auf dem jüdischen Friedhof zu veranstalten. Schönheitsfehler: Der 8. Mai war ein Schabbat und der endete im Mai dort nach 21 Uhr. Offensichtlich agiert man also in Unkenntnis der jüdischen Haltung zu Schabbat, Friedhofsbesuchen und der Trauer.
Einem kundigen Bewohner der Stadt fiel das jedoch auf und dieser schrieb dazu die Lokalzeitung an und unterstrich, wie unpassend die Veranstaltung auf dem Friedhof war (siehe hier, borkenerzeitung.de).
Für mögliche Leserinnen und Leser aus der Öffentlichkeitsarbeit: Hier kann man deeskalieren und sich entschuldigen. Wir kennen das:
»… ist der Eindruck entstanden…« [diese Formulierung schützt davor, sich tatsächlich zu entschuldigen] »…wir hätten die jüdische Tradition nicht ernstgenommen. Dies war jedoch nicht unser Ziel – bla bla jüdische Tradition bla bla wichtiger Grundstein deutscher Geschichte bla bla Verantwortung etc.«
Schon ist die Geschichte vom Tisch. Nicht so in Borken. Denn bei der veranstaltenden SPD gibt es anscheinend Experten für Halachah.
Dieser verwendet zunächst ein deutsches Standardargument: Das haben wir schon immer so gemacht!

»Der Beginn ist immer um 18 Uhr. […] Seit 1982 bis 2021 war dies sechsmal ein Samstag.

borkenerzeitung.de

Dann das halachische Argument:

… im jüdischen Kalender dauert der Tag vom Vorabend des Tages bis zum Abend des Tages – nicht von 0 bis 24 Uhr. Hier gibt es aber der Einfachheit halber das „vereinfachte Zeitmaß“. Da beginnt der jüdische Tag, unabhängig vom Sonnenuntergang, um 18 Uhr am Vorabend und endet entsprechend am Abend des Tages zu dieser Zeit. Aus diesem Grunde habe ich für unsere Gedenkfeier das Tor des Friedhofs um 18.01 Uhr geöffnet, dem Vorabend des Sonntags.

borkenerzeitung.de

Die Frage ist, neben der, woher diese Weisheiten stammen und wie man voller Überzeugung das Falsche behaupten kann, warum es heute noch so schwerfällt, sich die entsprechenden Informationen zu beschaffen und sich im Nachhinein nicht bereit zu zeigen, ein wenig Flexibilität zu zeigen.
Ein Teilaspekt einer möglichen Antwort: Die eigene Tradition wird noch immer als normativ wahrgenommen und trotz aller Beteuerungen von Multikulturalismus oder jüdisch-christlicher Kultur, sind alle Unterschiede dann Abweichungen von der »normalen« Kultur. Unterschiede werden nicht anerkannt oder gut gefunden, sie werden ausgehalten. Im vorliegenden, exemplarischen Fall, nicht einmal das. Hier wird jüdische Tradition durch Dritte erklärt und das muss nicht immer funktionieren.