Reclam. Die meisten Schülerinnen und Schüler, die in Deutschland zur Schule gegangen sind, kennen die kleinen gelben Heftchen von Reclam. Dort gab und gibt es die große Literatur. Den »Woyzeck«, die »Die Leiden des jungen Werthers«, aber auch den »Jerusalemer Talmud« (in sieben ausgewählten Kapiteln) und nun »Die Sprüche der Väter«, auf Hebräisch »Pirkej Awot«. Sie sind Bestandteil der Mischnah und sind ein beliebter Steinbruch für Zitate »Wenn nicht ich, wer dann?«, »Sprich wenig und tue viel!«, »Sage nicht, wenn ich frei sein werde, werde ich lernen; vielleicht wirst du nicht frei werden.« Die Liste kann lange fortgesetzt werden.

Die erste Frage nach dem Reclam-Text lautete also: Welche Übersetzung haben sie verwendet? Marcus Lehmann, Lazarus Goldschmidt oder Bamberger? Das deutschsprachige Judentum hat zahlreiche gute Übersetzungen (und Kommentare) hervorgebracht.
Keine von den vielen, die verfügbar sind, wurde verwendet. Der katholische Theologe Professor Bernhard Lang hat die Übersetzung und den Kommentar verfasst. Leider merkt man eine große Distanz zur jüdischen Sicht auf den Text recht schnell bei der Lektüre.

Eine neue Übersetzung Warum?

Wo Mosche die Torah vom Sinai [miSinaj] empfing, so die meisten anderen Übersetzungen, erhält Mose hier das »Tora(-Amt)« am Sinaj. Wo das Judentum von der Weitergabe der Mesorah spricht, wird hier von der Weitergabe eines »Amts« gesprochen. Der »Zaun um die Lehre«, der ja nahezu sprichwörtlich geworden ist, wurde zur »Hecke um die Tora«.

Die Sprache ist offenbar absichtlich etwas altertümlich gehalten und die Syntax etwas verkomplizierend umgestellt. Anscheinend soll die Satzstellung des hebräischen Satzes nachgestellt werden. Interessant sind Reime in der Übersetzung, während im hebräischen Original keine vorhanden sind: »Einen Lehrer dir nimm, einen Kameraden gewinn« macht Lang aus dem Satz »aseh lecha raw, ukene lecha chawer« - kein Reim. Der Satz bedeutet, wörtlich übersetzt, etwa »Mache dir einen Lehrer, erwirb dir einen Freund«. Der »Kamerad« führt recht weit weg von der ursprünglichen Bedeutung. In seiner Anmerkung zu dieser Textstelle weist Lang darauf hin, dass das »Studium zu zweit bis heute in orthodoxen Talmudschulen üblich sei«. Als Beispiel nennt er dann Anschel und Avigdor aus Singers »Jentl, der Talmudstudent«…

Übersetzerische Missverständnisse lassen sich einige zusammentragen. Die meisten scheinen darin begründet zu sein, dass bei der Übertragung der Kontext ausgeblendet wurde. Es fehlen an dieser Stelle Platz und Ausdauer für eine detaillierte Aufzählung. Aber eine Stelle schauen wir uns noch an. Sie ist recht bekannt: »Im ejn Torah - ejn derech erets«. Jüdische Übersetzer und Kenner der Mischnah übertragen in diese Richtung: »Wer keine Torakenntnis besitzt, der hat keine Humanität« (Bamberger), man könnte es vielleicht auch mit »angemessenem Verhalten« übertragen. Lang übersetzt »keine Tora, kein Alltagstun.«. Hier gehe es, laut Kommentar darum, sich an »Sponsoren zu wenden« - in dem Satz gehe es um Lebensmittel.

Missverständnisse? Talmud und Weise

Der Untertitel des Buches ist übrigens »Das Weisheitsbuch im Talmud«. Das ist deshalb interessant, weil es von Pirkej Awot »nur« eine Mischna gibt. Diese Mischna hat keine Gemarah, ist also in den meisten Ausgaben des Talmud überhaupt nicht enthalten und gehört auch eigentlich nicht dazu. Die Begründung ist nicht sehr überzeugend, zumal der uninformierte Leser nichts über den Talmud erfährt:

»Der Talmud umfasst in seiner deutschen Übersetzung zwölf Bände (Der babylonische Talmud, übersetzt von Lazarus Goldschmidt, Berlin 1929-36). Als Teil des Talmuds - zu finden in Band 9 (1934) - sind die Vätersprüche in der jüdischen Literatur etabliert, so dass sie ununterbrochen studiert und kommentiert werden.«

Sprüche der Väter, Seite 129

Die Talmud-Ausgabe von Lazarus Goldschmidt hatte den Anspruch alle Mischnajot und alle Traktate des Talmuds zu präsentieren. Ein Blick in »Primärliteratur« wäre vielleicht erhellender gewesen. In einem Talmud-Band von Goldschmidt sind mehrere Traktate des Talmuds und die Mischnajot zusammengefasst.

Neben Anschel und Avigdor aus Jentl treffen wir auch Shakespeare. Er habe in »Coriolanus« (entstanden um 1608) ein Zitat aus den Pirkej Awot verwendet (hier mal in der Übersetzung von Schlegel zitiert):

Schreit gegen den Senat, der doch allein,
Zunächst den Göttern, euch in Furcht erhält;
Ihr fräß’t einander sonst. Was wollen sie?

Shakespeare, Coriolanus, 1. Akt, 1. Szene

In den Pirkej Awot heißt es (Bamberger):

»Rabbi Chanina, der Vorsteher der Priester, sagte: 
Bete stets für das Wohl der Regierung, denn wäre nicht die Furcht vor ihr, so würde einer den andern lebendig verschlingen.«

Mischna Awot 3,2

Dazu schreibt Lang: »Hat der Autor das Wort aus dem Mund eines jüdischen Zeitgenossen gehört?« Das wird schwierig gewesen sein, wurde doch die jüdische Bevölkerung 1280 aus England vertrieben und erst 1655 wurde gestattet, sich wieder auf englischem Boden niederzulassen. Mehr Projektion als Fakt.
Das bezieht sich auch auf die Exkurse über die Mischna Awot und die »Rabbinen«, die anhand der Lektüre des Traktats Awot als »Asketen« dargestellt werden sollen - was große Teile des Talmuds einfach komplett ignoriert, in dem die Weisen teilweise einfach auch mal Männer sind. Bei der Charakterisierung kommt übrigens Hermman Hesse zu Wort, der nicht nur freundliche Dinge über Juden gesagt hat (etwa »Juden wie Deutsche haben neben ihrer rohen dummen und feigen Mehrheit auch eine feine, weise und tapfere Minderheit, mag sie noch so klein sein.«). Als Untermauerung soll auch eine Gegenüberstellung von Sätzen aus den Sprüchen der Väter mit der »Benediktsregel« (der Bendediktiner-Mönche) dienen.

Alles in allem: Wer sich mit den »Sprüchen der Väter aus katholischer Sicht« befassen möchte, kann zu diesem Band greifen. Wer sich dem Judentum über einen jüdischen Text annähern will, der greift bitte nicht zu dieser Übersetzung und nicht zu diesem Kommentar.

Die Sprüche der Väter
Das Weisheitsbuch im Talmud
Neuübersetzung
Reclam 2020
Übers. und Hrsg.: Lang, Bernhard
138 S.
ISBN: 978-3-15-014042-0
(Link zu Reclam mit Leseprobe)