Ihre Geschichte ist außergewöhnlich und »typisch« zugleich. 
Sie kam 1990 nach Deutschland. Das könnte eine Wende im Leben sein. Migration, Neubeginn.
Tatsächlich hat Dr. Lia Frank angeknüpft und das ist das außergewöhnliche an ihrer Geschichte.
Lange bevor sie 1990 nach Deutschland kam, veröffentlichte sie in deutscher Sprache und fühlte sich der Sprache »zugehörig«.
Und das wiederum ist das »typische« an der Geschichte: Die Uneindeutigkeit.
Sie beginnt schon beim Geburtsort von Dr. Lia Frank. Sie wurde 1921 in Kowno geboren. Die Stadt, die auch Kaunas hieß, gehörte in einer Phase der Geschichte mal zu Polen und dann wieder zu Litauen. Unklare Verhältnisse. Während die politischen Rahmenbedingungen sich beständig ändernten, lebte die jüdische Bevölkerung mittendrin. Vielleicht die ersten richtigen Europäer Europas.
Im Jahr 1900 waren 37% der Einwohner der Stadt Kowno/Kaunas jüdisch. Ein Teil von ihnen sprach Polnisch, einige Jiddisch, andere wiederum nutzten Deutsch als Sprache des Bürgertums. 
Weil der Vater die polnische Staatsbürgerschaft hatte, verließ er nach Verlust seiner Arbeit (Lehrer) Kowno-Kaunas und ging zunächst mit seiner Frau und seiner Tochter nach Berlin. Verwandte brauchten dort die Hilfe der Mutter. 
In Berlin wurde »natürlich« Deutsch gesprochen. 1929/1930, als sie 9 oder 10 war, zog die Familie dann mit einem Onkel nach Lettland. Der Vater fand in der kleinen Stadt Ludza eine Anstellung als Lehrer. Lia besuchte die jiddische Schule und lernte dort auch etwas Lettisch. Es kamen also weitere Sprachen dazu. Offenbar beherrschte sie diese so gut, dass sie später das lettische Gymnasium besuchen durfte.
Die Zulassung zum Jurastudium war eine Bewährungsprobe. Abschlussprüfung und Zulassungsprüfung wurden von den Behörden zusammengelegt. Später schilderte sie, dass es offenbar nicht erwünscht war, dass jüdische Jugendliche einen Studienplatz erhielten. Den Abschluss erhielt, wer auf eine Zulassung verzichtete. 
Sie erwirkte dennoch, dass sie an der Universität angenommen wurde. Statt des Studiums erwartete sie ein Umbruch. 

Die politischen Verhältnisse wechselten erneut. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion.
Die Familie ging nach Swerdlowsk im Ural. Dort beendete sie ihr Studium und wurde tatsächlich Juristin. Russisch war hier natürlich die Sprache der Wahl. Einer ihrer beiden Söhne kam dort zur Welt. Wie sie berichtete, machte es ihr zu schaffen, dass man es am weitesten mit kleinen finanziellen Gefälligkeiten brachte. Sie kehrte ihrer Tätigkeit als Anwältin den Rücken und wandte sich der Vermittlung von Fremdsprachen zu.

Welche Sprache war ihre eigene Sprache, mag man sich hier fragen?

Nach Tadschikistan Fast ein Neubeginn

Dann wieder ein Umbruch. Raus aus dem Umfeld. In Duschanbe (in Tadschikistan) war eine neue Universität entstanden. Ein neuer Beginn ohne verkrustete Strukturen erschien denkbar. Eine neue Umgebung, aber etwas mehr zuhause.
Während sich also die äußeren Parameter ständig änderten, wandte sich Lia Frank der Dichtung zu. Ab 1963 nahezu ausschließlich in deutscher Sprache. Sie sah sich als »sowjetdeutsche« Schriftstellerin - fasste den Begriff also nicht »ethnisch« auf, sondern kulturell. 
Gut kann man das in einem Gedicht aus dem Jahr 1991 nachvollziehen (ein Ausriss aus dem Gedicht »Lebenslänglich«):

An euch gekettet
durch eure Sprache
eure Gedichte
und eure Lieder

[…] an denen ich zerre,
mich zerfleischend,
und die ich nicht lassen kann,
wie mein Leben.

Und sie war fleißig. Veröffentlichte zahlreiche ihrer Texte in der Sowjetunion. Das mag überraschen, aber deutschsprachige Publikationen gab es in der Sowjetunion. 1955 wurde die erste deutschsprachige Zeitung des Staates gegründet.  1957 folgte die Zeitung »Neues Leben« in der Lia Frank - unter anderem - veröffentlichte.

Sie wandte sich später sogar Haikus zu und veröffentlichte nach ihrer »Rückkehr« nach Deutschland, auch hierzu in deutscher Sprache. Die »deutsche Haiku Gesellschaft« veröffentlichte einen ihrer theoretischen Texte zu dieser besonderen literarischen Form. 

Nach Deutschland Ein Kreis schließt sich

1990 war dann das Jahr, in dem sich der große Kreis schloss. Duschanbe wurde im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen zu einem ziemlich heißen Pflaster für »Russen«, also für alle Bewohner, die als Nicht-Tadschiken zu identifizieren waren. Ihr jüngerer Sohn begleitete sie nach Deutschland. Der ältere Sohn ging später nach Israel. Seine Familie, also Lia Franks Schwiegertochter und ihre Enkelin sollten später folgen. Die erste Station war die kleine Stadt Zittau. Schnell ging es von dort nach Berlin (mit einem kurzen Aufenthalt in Sigmaringen). Die Enkelin folgte tatsächlich etwas später. Es sollte sich zeigen, dass Lia Franks Entscheidung, schon in Duschanbe mit ihrer Enkelin Deutsch zu sprechen, hier nun natürlich mehr als hilfreich war. So begann die Enkelin nicht vollständig neu.

Dr. Lia Frank, Porträt

Das neue Kapitel beschreibt sie selber in ihrem Gedicht »Exodus Drei«:

Exodus Drei
Bin ich Gast? 
Bin ich heimgekehrt? 
Zeit rundet sich, läuft verkehrt - auf den Anfang zu… 

Zum Andenken zwei Kieselsteine.
Ausgetreten auch 
dieser Brand … weshalb noch weinen? 

Ins Gestern 
tauche ich ein - in die Sprache, 
die ich vermisste, 
die so fern war, 
wie jetzt mein Heim…

Ich weiß: 
beide dürfen 
nicht beisammen sein…
Berlin im September 1990.

Die Überschrift dieses Artikels »In der deutschen Sprache zuhause« müsste also eigentlich mit einem Fragezeichen versehen werden und führt zum Thema Uneindeutigkeit zurück.

In Deutschland wirkte Dr. Frank weiter und verstarb letztendlich im April 2012 in Berlin. Gewürdigt wurde ihr Wirken immer einmal von Interessierten kleinerer Zielgruppen, wie der Deutschen Haiku-Gesellschaft (siehe hier).

Die Enkelin, Jana Frank, die heute in Berlin lebt und ebenfalls eine Künstlerin (wie ihr Vater und ihre Mutter) ist (und das offenbar recht »erfolgreich« - ihr russischsprachiger Blog hat 45.000 Abonnenten) hat Dr. Frank in ihrem letzten Lebensabschnitt weiter begleitet und berichtet, dass es offenbar noch unveröffentlichte Texte gibt. Ein Manuskript mit der autobiographischen Beschreibung der Lebensgeschichte ist der Familie verloren gegangen.

Möglicherweise findet sich jemand, der das literarische Erbe von Dr. Frank in der Ausführlichkeit würdigt, das es verdient hat. Dieser Blogeintrag ist vielleicht nur ein (sehr) kleiner Beitrag dazu, aber es ist einer.
Mehr Lesematerial gibt es in diesem kasachischen Sammelband (in deutscher Sprache natürlich).

Ich danke der Familie von Dr. Lia Frank, vertreten durch die Enkelin Jana Frank für die Erlaubnis, Texte und Bilder zu verwenden.