
Dass die Zahl der Gemeindemitglieder kontinuierlich sinkt, ist kein Geheimnis. Dass der Trend sich fortsetzt, war zu erwarten. Nun schauen wir, wie »stark« der Rückgang ist. Am Ende des Jahres 2019 hatten die Jüdischen Gemeinden 94.771 Mitglieder (2018 waren es noch 96.195). Das wäre ein Rückgang von 1,5 Prozent.
245 Geburten standen 1.434 Todesfälle gegenüber.
146 Menschen sind ausgewandert, aber 527 Menschen eingewandert. Das ist gar keine kleine Zahl.
Mit 372 ist die Zahl der Austritte zurückgegangen. Aussagekräftiger als die absoluten Zahlen, dürften die Austritte je Tausend Mitglieder sein: 2018 waren das etwa 215 (hier gab es im liberalen Landesverband Schleswig-Holstein eine Austrittswelle) und 2019 nur noch 67.
Spitzenreiter bei diesen Austritten ist (ungebrochen) Berlin. Hier bewegt sich die Anzahl von Austritten je Tausend stabil zwischen 15 und 16.
Interessant ist noch immer, dass nicht alle Menschen die umziehen (397) auch in anderen Gemeinden ankommen (382). Diese Zahl muss man jedoch über einen längeren Zeitraum verfolgen und so feststellen, wie hoch die Zahl derjenigen ist, die sich nicht wieder in einer Gemeinde angemeldet haben. Hier steckt übrigens dann Potential für erneute »Eintritte«.
2019 gab es 102 Übertritte. Mit 19 ist der Landesverband Niedersachsen (nicht der liberale) hier anscheinend der Spitzenreiter.
Werfen wir also einen Blick darauf, wie sich das Wachstum der Gemeinden entwickelt:

Schon 2018 wurde Berlin als größte Gemeinde des Landes »abgelöst« und München überholte die Gemeinde der Hauptstadt. Was wir von Berlin nicht wissen, ist wie sich das Wachstum der zwei Adass Jisroel Gemeinden entwickelt.
Von den größten jüdischen Gemeinden in Deutschland, schrumpft München am »langsamsten«. Für einen Vergleich wurde hier das Jahr 2010 gewählt (der »Höhepunkt« der Gemeindemitgliedschaften war 2006 mit 107.794 Personen. Mit diesem Jahr wird also die Entwicklung betrachtet. Nimmt man etwa das Jahr 1989, den der Zuwanderung, dann schreiben wir natürlich immer eine Erfolgsgeschichte, aber wir wollen ja den gegenwärtigen Zustand betrachten und vielleicht sogar einen Blick in die Zukunft werfen. Unter dieser Voraussetzung hat Berlin in 9 Jahren 14,7 Prozent (also gerundet 15) der Gemeindemitglieder verloren. Das sind 1.562 Personen, oder eine mittelgroße Gemeinde.
Für die sechs größten Gemeinden sieht man die Entwicklung in der folgenden Tabelle. Schnell sieht man, dass München – im Vergleich jedenfalls – ziemlich gut ausschaut. Hier hat man in 9 Jahren »nur« zwei Prozent der Mitglieder verloren:
Stadt | 2010 | 2019 | Wachstum | Wachstum/Prozent |
---|---|---|---|---|
München | 9.461 | 9.274 | -187 | -2,0 % |
Berlin | 10.599 | 9.037 | -1.562 | -14,7 % |
Düsseldorf | 7.080 | 6.657 | -423 | -6,0 % |
Frankfurt a.M. | 6.832 | 6.316 | -516 | -7,6 % |
Hannover | 4.489 | 4114 | -375 | -8,4 % |
Köln | 4.418 | 4071 | -347 | -7,9 % |
Auf der folgenden Karte werden die zehn größten Gemeinden dargestellt. Diese zehn Gemeinden stellen 53 Prozent der Mitglieder aller Gemeinden! Bei 104 jüdischen Gemeinden in Deutschland sagt das viel über die Verteilung. Etwa die Hälfte der Gemeinden stellen also Kleingemeinden. Es ist auch vermerkt, mit welcher Wachstumsrate die Gemeinden seit 2010 gewachsen sind, oder eben geschrumpft.

Interessant ist es vielleicht, die letzten Synagogeneröffnungen mit den entsprechenden Entwicklungen der Mitgliederzahlen zu betrachten. Auf talmud.de gibt es seit kurzer Zeit eine chronologisch sortierte Liste der Synagogenbauten. Wir betrachten die letzten vier (für die Gemeinden Unna und Ulm gibt es keine Zahlen):
Stadt | Jahr d. Eröffnung | Mitglieder 2010 | Mitglieder 2019 |
---|---|---|---|
Konstanz | 2019 | 456 | 331 |
Regensburg | 2019 | 1.001 | 1.006 |
Rottweil | 2017 | 257 | 279 |
Cottbus | 2015 | 342 | 498 |
Es ist offensichtlich, dass sich die Zahlen hier zunächst recht positiv entwickelt haben.
Aber weitere Gemeinden sind seit 2010 gewachsen! Etwa Nürnberg. Nürnberg hatte 2010 1.883 Gemeindemitglieder. 2019 waren es dann 2271. Das wäre ein Zuwachs von 21 Prozent. Oder das »Jüdisch-Sefardisch-Bucharisches Zentrum« Hannover. Von 240 Mitgliedern 2010 zu 340 Mitgliedern 2019. Das wäre ein Zuwachs von 42 Prozent. Fürth (also in unmittelbarer Nachbarschaft zu Nürnberg) um 14 Prozent, von 298 auf 341 Mitglieder. Die Minigemeinde Minden wuchs auf 90 Mitglieder an. 2010 waren es noch 82, aber zwischenzeitlich (2017) waren es auch schon 95 Menschen. Die weitere Entwicklung ist hier stark anhängig von der ungünstigen Altersverteilung und ist vielleicht eher eine verzögerte Entwicklung, als eine gegenläufige.
Zur Altersstruktur: Noch immer machen die Senioren (hier zähle ich alle Leute ab 61 Jahren dazu) den größten Teil (48 Prozent) aus:

Was man nicht auf den ersten Blick erkennt: Ab dem 31. Lebensjahr gibt es einen massiven Überhang von Frauen. Bedeutet: Eigentlich müsste ein Wettstreit um jüdische Männer ausgebrochen sein. OK, in der Alterskohorte 31 bis 40 sind es nur 33 Frauen mehr. Zwischen 41 und 50 sind es aber bereits 930 (!) und zwischen 50 und 60 dann 950.
Die kleinste Gemeinde des Landes war Ahrensburg-Stormarn mit 20 Mitgliedern (eine liberale Gemeinde, etwa 30 Kilometer von Hamburg entfernt).
Fazit Weiterer Rückgang
Es bleibt dramatisch, auch wenn sich zwischenzeitlich Chancen ergeben, dass sich lokal etwas ändert. Die großen Gemeinden, die ja den größten Teil der Mitglieder repräsentieren, zeigen vermutlich heute schon eine Entwicklung, die später kleinere Gemeinden einholen wird. Wie es für sie dann ausschaut, wird sich zeigen. Eines steht fest: München wird für längere Zeit die größte Gemeinde bleiben.
Die gesamte Liste kann bei der ZWST direkt heruntergeladen werden.
ich vermute, dass der weibliche überhang in der kohorte 41—50 mit der kinderbetreuung in den gemeinden zusammenhängt.
Bei der Liste der Synagogen würde natürlich die durchschnittliche “Auslastung” vor Corona interessieren. Aber aus naheliegenden Gründen behalten die Gemeinden das natürlich lieber für sich…
Man müsste mal einen Anpassungstest für die Mitgliederzahlen nach dem Scheitelpunkt machen. Ich würde ja exponentielle Schrumpfung vermutung. Doch im Diagramm sieht es eher linear aus.
Exponentiell denke ich eher nicht. Deshalb beschrieb ich auch das unterschiedliche »Wachstum« in den Gemeinden.
Bei konstantem Verhältnis von Geburts- zu Todesrate wächst/schrumpt eine Gesellschaft exponentiell. Wenn das beobachtete Verhalten ein anderes ist, wäre das m.E. erklärungsbedürftig.
Zur Graphik der Altersstruktur: Ab 30 Jahren werden Altersklassen mit jeweils 10 Jahrgängen gebildet, darunter sind es für insgesamt 30 Jahrgänge 6 Altersklassen, also durchschnittlich nur 5 Jahrgänge je Balken. Durch diese Darstellung wird die vorhandene Überalterung dramatisiert. Das ist m.E. methodisch nicht ganz korrekt.
Valider Einspruch!
Die Einteilung oben stammt von der ZWST, eine andere Darstellung ist deshalb leider nicht wählbar. Dazu müssten mir die Zahlen pro Altersjahr vorliegen. Die sind bereits in »Clustern« repräsentiert.
yankel, die mitglieder bilden nur einen ausschnitt der (jüdischen) gesellschaft ab.
@Anatol: Wer nicht bereit ist, Mitgliedsbeiträge zu bezahlen, hat sich defakto aus der jüdischen Gesellschaft verabschiedet, oder nicht? (Ist aber natürlich nominell trotzdem Jude. Bei den Nachkommen sieht es statistisch diesbezüglich bekanntlich düster aus.)
chajm, in der grafik «altersstruktur» ist die anzahl der männer negativ dargestellt. das ist unsinn.
Das ist nur eine Konvention der Tabellenverarbeitung, keine Wertung.
yankel, viele juden im rentenalter in deutschland leben von staatlichen almosen. [1] kinderarbeit ist in deutschland verboten. [2] als ich das letzte mal die frankfurter gemeinde besuchte, sah ich überall rentner und kinder. jetzt verstehe ich den grund ihrer anwesenheit: diese mittellosen juden verabschiedeten sich gerade aus der gesellschaft.
eine quelle für die «statistisch bekanntlich düstere» prognose würde meinen horizont erweitern.
[1] bundestag, drucksache 19/7854
[2] jugendarbeitsschutzgesetz, § 7
@Anatol: Ich rede nicht von Kindern und Rentnern, sondern von den Erwachsenen dazwischen. Da war (ist?) es (besonders unter “Kontingentfllüchtlingen” nicht unüblich, aus der Gemeinde auszutreten, sobald man einen Job gefunden hat und damit zahlungspflichtig wird.
Quelle: google einfach nach Jewish Demographics, da gibt es jede Menge einschlägiges Material zur Zukunft des non-observant Diaspora-Judentums.
Wenn Du es gern anschaulich magst, hier ein klassisches Diagramm.
https://www.aish.com/jw/s/Will-Your-Grandchildren-Be-Jews.html
Gut Schabbes.
yankel, mein punkt ist, dass es offensichtlich nicht-beitragzahlende mitglieder gibt. nehmen wir an, alle mitglieder zwischen 31 und 70 zahlten im letzten jahr beiträge, der rest nicht. die summe der beitragzahler: 9501 + 10050 + 11938 + 15627 = 47116. das ist die hälfte von allen 94771 mitgliedern. bei solchen verhältnissen wäre es falsch von einer bindung der mitgliedschaft an den beitrag zu sprechen.
danke für die amerikanische studie.
@Anatol: Sorry, Du hast mich abgehängt.
9. Juli: “die Mitglieder bilden nur einen Ausschnitt der (jüdischen) Gesellschaft ab.”
12. Juli: “mein punkt ist, dass es offensichtlich nicht-beitragzahlende mitglieder gibt”
Redest Du nun über Nicht-Mitglieder oder über Mitglieder?
Wenn schon die Juden innerhalb der Gemeinde nicht in der Lage sind, sich demographisch zu erhalten, dann werden die ausserhalb dazu erst recht nicht in der Lage sein, siehe “amerikanische Studie”. Das meinte oben ich mit “statistisch düster”.
yankel, ich rede über die mitglieder.
du sagtest, die nicht-exponentielle schrumpfung bedarf einer erklärung. das finde ich auch. meine erklärung ist, dass die mitglieder nicht die gesamte population abbilden. anders ausgedrückt: ein rein biologisches modell ist nicht auf kulturelle vereine anwendbar.
ich habe deinen artikel gelesen und deine aussage verstanden.
“ein rein biologisches modell ist nicht auf kulturelle vereine anwendbar.”
Genau!
Frage bleibt aber trotzdem, warum die Kurve so scheinbar gerade verläuft.
Anders gefragt: warum hat sich in Chajm’s “Wachstum im Verlgeich” Diagramm oben die Schrumpfung zuletzt beschleunigt? Könnten natürlich einfach zufällige Schwankungen sein, die sich langfristig ausgleichen.
Mein Hypothese ist wie gesagt, dass die Nicht-Mitglieder mehr “mittelalte” berufstätige enthalten. Habe allerdings nur “anectotal evidence” und keine harten Daten. Das wäre allerdings m. E. nicht die demographische Rettung, denn sie werden zur Folge-Generation nur unterdurchschnittlich beitragen.
in der aufstellung der zu- und abgänge für 2019 pro landesverband (lange version, seite 6) werden diese in kategorien eingeteilt. zwei von ihnen sind rätselhaft: «sonstige zugänge» und «sonstige abgänge». ich verweise auf die unglaublichen zahlen aus frankfurt am main: 33% der zugänge (98 von 294) und 49% der abgänge (200 von 406) sind als sonstige aufgeführt.
yankel, vielleicht hat dieses rätsel etwas mit deiner hypothese zu tun.