Wer einen einzigen Menschen rettet, dann ist es, als würde er eine Welt erretten. Dieses Zitat aus dem Talmud (Sanhedrin 37a) wird in diesen Tagen viel zitiert, wenn es um Carola Rackete, die deutsche Kapitänin, geht, die den Hafen von Lampedusa ohne Erlaubnis der italienischen Behörden anlief - mit Flüchtlingen, die sie aus dem Mittelmeer gerettet hat. Carola Rackete verstieß mit ihrer Entscheidung, in den Hafen mit den Passagieren einzulaufen, gegen Seerecht. Das scheint unstrittig zu sein. Die Frage bleibt, ob dies tatsächlich verfolgt werden sollte - angesichts der Rettung der Menschen aus dem Mittelmeer und der Tatsache, dass die Menschen andernfalls vermutlich gestorben wären. Entweder im Meer, oder an der libyschen Küste. Die Kommentare bei Facebook und Twitter bieten hier keinen großen Mehrwert, es sei denn, man schätzt den Blick in den Abgrund.

Schauen wir also, was über das »ein-einziges-Leben«-Zitat hinausgeht. Der Talmud ist an anderer Stelle aber etwas expliziter und wir brauchen unseren, doch vielleicht ein wenig überstrapaziertem, Spruch, nicht unbedingt. Ebenfalls in Sanhedrin heißt es:

»Woher wissen wir, dass, wenn jemand seinen Nächsten in einem Fluss ertrinken sieht, wie ein wildes Tier ihn wegschleppt oder wie Räuber ihn überfallen, er dazu verpflichtet ist, den anderen zu retten? Weil die Torah sagt: ›Du sollst nicht neben dem Blut deines Nächsten stehen‹«

Talmud, Sanhedrin 73a

Das Zitat aus der Torah lautet tatsächlich:

Du sollst nicht neben dem Blut deines Nächsten stehen

3. Buch Mosche 19,16

Auch Maimonides greift es in seinen »Vorschriften vom Totschlagen und den Vorkehrungen gegen Lebensgefahr« (1,14) auf und hier wird das Meer auch als typisches Beispiel genannt:

Wer retten kann und nicht rettet, übertritt das Verbot: »Du sollst nicht gleichgültig beim Blut deines Nächsten stehen« (3. B.M. 19,16). Das Gleiche gilt auch von demjenigen, der seinen Nächsten im Meer ertrinken, der Räuber und wilde Tiere über ihn herfallen sah, und im Stande gewesen wäre, entweder selbst oder mittelst bezahlter Leute ihn zu retten, dies aber nicht tat, ferner von demjenigen, der in Erfahrung bringt, dass Feinde gegen jemanden Böses im Sinne führen, oder ihm eine Falle zu legen beabsichtigen und er es ihm nicht anzeigt, noch ihn davon in Kenntnis setzen lässt, schließlich auch auch von demjenigen, welcher weiß, dass sein Feind oder ein Gewalttätiger einen Streich gegen seinen Nächsten auszuüben beabsichtigt, den er in Güte abzuwenden im Stande wäre, ohne dass er dies jedoch getan hätte. Alle diese nämlich, und ebenso ihres Gleichen, überschreiten ebenfalls das Verbot »Du sollst nicht gleichgültig beim Blut deines Nächsten stehen.«

Von den Gegnern dieser Arbeit wird immer sofort darauf hingewiesen, man dürfe nicht helfen, weil man dadurch andere, motiviere, es ebenfalls zu versuchen. Tatsächlich reicht das Benzin, welches die Schlepper den Menschen zur Verfügung stellen, bis in internationale Gewässer. Aber entbindet das von der Pflicht, den Menschen zu helfen? Wohl kaum. Es ruft uns aber dazu auf, den Blick zu weiten. Sobald wir wissen, dass Menschen sich auf den Weg machen und vermutlich sterben werden, sind wir eigentlich gefordert dafür zu sorgen, das genau dies nicht passiert. Das muss jedoch nicht erst an der Küste beginnen. Nicht wenige beginnen ihre Reise ja nicht an der Küste des Mittelmeers, sondern sogar südlich der Sahara (siehe diesen Artikel im »New Yorker« dazu) und sterben schon auf dem Weg zur Küste in der Wüste. Die Wüste unterscheidet sich im Risiko wenig vom Mittelmeer. Aber sie ist weiter weg und die Körper der Toten werden nur von denen gesehen, welche ebenfalls die Wüste durchqueren. Seit 2014 beobachtet Frankreich übrigens mitten in der Wüste, in Madama, die Migrationsbewegungen. Ganz ahnungslos sind wir also alle nicht. Ein Nebenaspekt: Es gibt auch Fotografien von deutschen Flugzeugen in Madama.

Es kann kaum eine erzieherische Maßnahme sein, Menschen ertrinken zu lassen - zumal es den Schleppern egal sein dürfte, wie viele Menschen das Mittelmeer am Ende lebend durchqueren. Härtere Maßnahmen sorgen für höhere Passagepreise (siehe den Artikel von Sarah Stillman aus dem Jahr 2013 dazu), aber sie beenden nicht den Umstand, dass Leute in das Mittelmeer geschickt werden. Nachdem, was wir bisher gesehen haben, scheint es, als seien wir verpflichtet, Menschen zu helfen und wenn wir das selber nicht können, jemanden damit zu beauftragen (siehe Maimonides). Aber das soll natürlich nicht erst und nur im Mittelmeer beginnen. Diese Arbeit muss auch dort gemacht werden, wo die Menschen aufbrechen. Aber wie begegnet man Perspektivlosigkeit? Fluchtursachen bekämpfen heißt es oft. Aber was bedeutet das konkret? Ist Europa bereit für eine geregelte Einwanderung? Möglicherweise ja. Die Populisten sind es nicht. Aber ohne Regelung wird es mehr illegale Versuche geben, sich nach Europa zu bewegen.

Solange dies nicht geklärt ist, gilt natürlich »Du sollst nicht neben dem Blut deines Nächsten stehen«.

Zu diesem Thema gibt es übrigens derzeit keine Verlautbarung der Allgemeinen oder der Orthodoxen Rabbinerkonferenz - jedenfalls soweit ich das überblicken kann. Eine halachische Einordnung wäre vielleicht hilfreich. Warum gibt es sie bisher nicht? Es scheint für einige Leute nicht auf der Hand zu liegen, Leben zu retten.