Gibt es eigentlich den Begriff »Blogosphäre« noch?

Wenn es ihn noch gäbe, dann könnte ich prima schreiben »Ein Geist geht um in der deutschsprachigen jüdischen Blogosphäre und sogar in der gesamten deutschsprachigen«. DER SPIEGEL hat einen Beitrag über die Bloggerin, die über »Read on my dear, read on« bloggte, veröffentlicht.
Um es ganz kurz zu machen: Die Angaben über ihren jüdischen Familienhintergrund seien falsch. Geschichten über Verwandte etwa, die sich über die Schoah austauschten, einfach nur ausgedacht. Es gäbe überhaupt keine jüdische Identität, außer eine »behauptete«. Im Laufe der Zeit habe die Bloggerin sogar falsche Opfer an Yad Vashem gemeldet - um ihre eigene Geschichte zu untermauern. Damit wurde natürlich die Grenze des Erträglichen überschritten.
Für den normalen Mitleser relativierte diese Enthüllung auch die kleinen Schnipsel, wie das so ist, wenn man mit einer jüdischen Identität nahezu allein irgendwo lebt.

Zur »Enthüllung« kam es offenbar, als historische Fakten nicht ganz sauber dargestellt wurden und Leser darauf aufmerksam und skeptisch wurden. Letztlich scheint dann jemand aus der Blogleserschaft den SPIEGEL darauf aufmerksam gemacht zu haben. Übers Wochenende war dann die deutschsprachige jüdische Blogwelt um einen Blog ärmer - dabei gibt ohnehin kaum jüdische Blogs. Über Schabbat passierte einiges auf twitter, der Hashtag #readonmyfake zog Kreise. Nahezu jede und jeder, so fühlte es sich an, fühlte sich berufen, den Fall zu kommentieren.
Meine Lieblingskommentare begannen mit »Habe ich nicht gelesen, aber…«. Die üblichen Namen wurden gedroppt: Da gäbe es ja auch den Fall »Binjamin Wilkomirski« und »Misha Defonseca« und und… Aber auch der »Fall« Wolfgang Seibert wurde genannt. Nicht ganz uninteressant in diesem Zusammenhang. Denn wenn es stimmt, was wir zu Seibert gelesen haben, dann verwundert es mich, warum dieser Fall im Vergleich zur Causa »Read On« so wenig Aufmerksamkeit erzeugt und nur zu einem halbherzigen Rückzug vom Vorstandsamt gereicht hat.

Aber zurück zu »Read on«.
Ein wichtiger Aspekt wurde mir in einem Gespräch mit einem Journalisten klar. In diesem Gespräch habe ich gelernt: 
Der Betrüger spiegelt oft auch das, was die Betrogenen sich wünschen.
Ja, gibt es einen »Markt« für den sanften Schauder, wenn auf die Familiengeschichte zurückgeblickt wird. Es gibt auch einen »Markt« für diejenigen, die ohne Schranke an dem teilhaben wollen, was sie für jüdisches Leben halten. Die Projektion wird angenommen und genau das geliefert, was man sich wünscht.
Vielleicht kann man enttäuschte Erwartungshaltung auch in einem Text von Caroline Fetscher vom Tagesspiegel wahrnehmen. Der Text zur »Read On« Geschichte zeigt recht eindrucksvoll, mit welchen Konstrukten im Kopf die Leserinnen und Leser etwas »jüdisches« lesen. Aus den Zeilen scheint viel Enttäuschung zu sprechen. Statt zu thematisieren, dass es vielleicht um das süße Nektar »Aufmerksamkeit« geht, worum es natürlich immer geht, wenn man einmal davon gekostet hat und Blogger nun einmal Teil einer Aufmerksamkeitsökonomie sind, wird das ganze theoretisiert und künstlich aufgeladen.

Dabei geht es eigentlich um das unbelastete Thema »Brot«. Die Read-On Autorin hat nämlich auch ein Buch mit dem Titel »Kunstgeschichte als Brotbelag« herausgebracht. Mit Fotos von Instagram und twitter. Nutzer bauten mit ihren Butterbroten berühmte Bilder nach. Das ist unverdächtig. Nicht, wenn es um Juden im weitesten Sinne geht. Fetscher schreibt über das Vorwort des Buches:

 „Brot und die Deutschen, das ist die Geschichte einer ganz besonderen Beziehung“ heißt es im Vorwort. Juden und Deutschland, das wird oft als die Geschichte einer ganz besonderen Beziehung bezeichnet, und ohne dass der Vergleich hier gezogen wird, kann er sich aufdrängen.

tagesspiegel.de

Dieser Vergleich drängt sich überhaupt nicht auf - bis jemand zwischen dem Satz »Brot und die Deutschen, das ist die Geschichte einer ganz besonderen Beziehung« und der Schoah einen künstlichen Zusammenhang herstellt. Es dürfte doch bekannt sein, dass es in Deutschland die meisten Brotsorten überhaupt gibt? Der Verlag GU titelt etwa: »Die Deutschen und ihr Brot - Ein unschlagbares Team«.

Wir erfahren also durch solche Sätze ein wenig über die Autorin und verstehen auf diese Weise vielleicht ihre grenzenlose Empörung.
Dabei ist Empörung eine Emotion, die man hier nur kurzfristig walten lassen darf. Langfristig sollte man sich fragen, was man selber beigetragen hat. Welche Erwartungen hat man da spiegeln lassen?
Weiter heißt es:

Auf alle Fälle lässt das groteske Spiel der Verzerrung und Vergröberung der sich plump und absichtlich als Fälschung zeigenden Brotbilder Rückschlüsse auf den Spieltrieb zu, mit dem Hingst ihrer Groteske konstruierte, indem sie künstliche Geschichten als Broterwerb betrieb.

tagesspiegel.de

Das ist natürlich eine groteske Konstruktion. Dabei irrt Fetscher schon in der einleitenden Überschrift: »Bloggende Hochstaplerin Marie Sophie Hingst«. Hier bloggt keine Hochstaplerin. Der Blog war oder ist die Hochstapelei. Semantisches Mimimi vielleicht, aber es gibt diese Hochstapelei ja nur wegen des Blogs und es ist keineswegs nur eine Begleitung einer Hochstapelei irgendwo im Real Life.

Eines kann man sich für die Zukunft merken: Wenn das Geschriebene geiler ist als die eigene Realität, dann ist es - sehr wahrscheinlich jedenfalls - nicht die Realität, sondern eine sehr dringlich herbeigesehnte Fiktion. Das beginnt im ganz kleinen, etwa in den zahllosen »Stolz-auf-mein-Kind-Tweets« - hier ein fiktives Beispiel - (erzählt mir nicht, dass alle diese Tweets wahr sind)

»Die kleine Joeline (2. Jahre) hat einen Obdachlosen gesehen und zu mir gesagt: Mama, wenn Leute wie Carsten Maschmeyer mehr Steuern zahlen würden, dann müsste der Mann nicht draußen schlafen. Ich bin soooo stolz.«

geht weiter bei modifizierten Darstellungen der Realität. Selbst im Abschlussbericht zum »Fall Relotius« wird klar, dass »Verdichtung« zur Verbesserung einer Reportage durchaus gehören durfte.
Das hört bei den großen Geschichten auf. Wenn dir jemand ständig Geschichten über seine spannenden Begegnungen erzählt, die er hat, wenn er mit Kippah durch die Gegend reist. Voller ungeahnter Wendungen und Zufälle. Dann könntest Du ahnen, dass sie vielleicht ein wenig ausgeschmückt sind. Es soll auch Menschen geben, bei denen einfach gar nichts passiert, oder nicht immer auf belesene, eloquente Menschen treffen.

Der Read-On Skandal erzählt viel darüber, wie draußen jüdisches gesehen wird, er erzählt vieles über das Verhältnis von Bloggern die es weit bringen wollen, zu ihren Lesern.
Er erzählt aber keine Geschichte darüber, wie ausschließlich ein Mensch alleiniger »Täter« war und alle anderen die arglosen Opfer.