Ein ordentliches Land ist das doch, oder nicht? Alles ist geregelt, festgelegt und kategorisiert. Straßenschilder haben festgelegte Größen, der Abstand zwischen den Streben eines Grillrostes ist festgelegt. Abläufe sind normiert. Ein Land, dessen »Reinheitsgebot« seit Jahrhunderten dafür sorgt, dass man sauberes Bier trinkt. Ein Land, dass für jeden deportierten Juden auch ordentlich ein Ticket dritter Klasse abgerechnet und fein säuberlich festgehalten hat.
Aber bei einigen Themen ist man ungewöhnlich flexibel und lässt jene mediterrane Lockerheit erkennen, die man im Urlaub so bewundert, jedenfalls solange der Flughafenzubringer pünktlich fährt: Eines von ihnen ist Antisemitismus.
Hier gibt es keine Norm und keine Handlungsanweisung. Wann ist er »schlimm« oder erfordert irgendein konkretes Handeln?
Hier wird von Fall zu Fall entschieden. Die Bandbreite reicht von »ist nicht so schlimm« bis »wir stehen hinter euch«. Die höchste Eskalationsstufe ist die Zusicherung von »Solidarität«.
Was wäre eine rote Linie für die Freunde der Ordnung?
Ist sie überschritten, wenn die Aktion von Zuwanderern ausgeht? Wenn eine Synagoge beschädigt wird? Wenn Grabsteine beschädigt werden? Wenn Juden mit Hatemail bedacht werden? Wenn jemand körperlich bedrängt wird? Wenn jemand verletzt wird? Wenn jemand getötet wird?
Haben wir alles schon gehabt. Deutschland sucht weiterhin die rote Linie.
Am 27. Juli 2000 explodierte am Bahnhof Düsseldorf Wehrhahn eine Rohrbombe. Unter den 10 lebensgefährlich verletzten Menschen waren sechs jüdisch. Kurze Zeit später gab es einen Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf. Dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte man den Appell vom »Aufstand der Anständigen« zurechtgelegt. Das wäre die Ausbaustufe von »Solidarität«. Der Brandanschlag wurde zügig aufgeklärt. Einer der Beschuldigten wurde sogar zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Und jetzt?
Es gab zahllose Vorfälle. In »meiner« Stadt Gelsenkirchen war die letzte Beschädigung der Synagoge in der letzten Woche. Wieder ein eingeworfenes Fenster.
Eingeworfene Fenster, Pöbeleien auf der Straße, in der Stadt gab es bereits das ganze Programm. Der Friedhof der Gemeinde ist nur noch mit einem Schlüssel zugänglich.
Dann gibt es die kleinen Geschichten und die Unsicherheiten: finden die Nachbarn dich einfach so unsympathisch, oder weil du Jude bist?
Glück gehabt - es ist normaler Rassismus. Weil du schwarze Haare hast und manchmal Russisch sprichst. »Das können sie ja bei sich im Land machen - WIR hier machen das anders«.
Wie hat die Stadtgesellschaft reagiert? Der jüdische Leser wird es ahnen: Man spricht Solidarität aus. »Man meint ja uns alle damit« – wohl wissend, dass das nicht stimmt. Gemeint war tatsächlich nur eine Gruppe.
Die Gemeindevorsitzende verbreitet Optimismus. Das ist ja auch ihre Aufgabe. Sonst kann man die Gemeinde gleich schließen. Immerhin gäbe es diese Solidarität und Leute, die sich melden.
Für die Solidarität kann man sich aber nichts kaufen. Solidarität, die »Normalität« herstellt gibt es nicht. Solidarität beschützt keine jüdischen Schüler in nichtjüdischen Schulen. Solidarität sorgt nicht dafür, dass Synagogen immer besser bewacht werden müssen. Jedenfalls nicht die Solidarität, die man hierzulande immer beschwört und die nur weitere Worte und Posten im politischen Betrieb hervorbringt und eine lange Kette von Unverbindlichkeiten.
Die SPD der Stadt hatte jedoch eine geniale Idee, wie man dem Antisemitismus begegnen kann: ein Programm gegen Rechts. Muss man noch dazu sagen, dass man nicht bekämpfen kann, was man nicht verstanden hat? Dass Antisemitismus mitnichten nur ein rechtes Phänomen ist? Dass die Israel-Boykotteure und »Juden ins Gas« Rufer (auch aus Gelsenkirchen) keine Anhänger rechter Gruppierungen sind? Wir sprechen da über einen Querschnitt der Gesellschaft. Vielleicht sogar auch über das Mitglied des Stadtrats von Gelsenkirchen, das laut darüber nachdachte, ob vielleicht jemand, der die Herausgabe von Raubkunst fordert, diese vielleicht zu Geld machen will (Juden und Geld und so…). War natürlich alles nicht so gemeint.
Echte Verantwortung ist gefragt. Eine Träne bei Schindlers Liste abzudrücken, reicht nicht aus. Fototermin mit Vertretern einer Gemeinde. Kurz lächeln oder betroffenes Gesicht machen. Leben geht weiter. Sorry. Das ist nicht ausreichend.
Es wäre also gut, auch bei diesem Thema die innere Pickelhaube zu entdecken und das Thema mit der gebotenen Ernsthaftigkeit anzugehen. Was ist die rote Linie? Alles andere hieße, dass man eigentlich keinen Bock auf seine »jüdischen Mitbürger« hat und sich mit der Solidarität nur Zeit verschafft.
Eines sei euch aber versichert: Selbst wenn die Synagoge eines Tages schließt, weil zu viele Juden nicht mehr in der Stadt leben (wollen): Das Klima bleibt vergiftet, die Gesellschaft bleibt beschädigt. Da nützen auch die schönsten Normen nichts mehr, wenn es niemanden gibt, der sie durchsetzen könnte.