Religion und Einsamkeit in der kleinen Stadt

In dieser Woche blieb ich an einem Zeitungsartikel aus einer Lokalzeitung hängen (über google-News). Ein Mann möchte in einer Stadt mit etwa 100.000 Einwohnern eine jüdische Gemeinde gründen oder aufbauen.
Das klang zunächst einmal interessant.
Das Bild zum Artikel zeigt einen bärtigen Mann mit Kippah und Tallit-Katan. Er sei – gefühlt -der einzige Jude in der Stadt und wünsche sich mehr Kontakt zu anderen Juden. Er möchte Brüder und Schwestern einladen, sich bei ihm zu melden.
Eine Frage drängt sich auf: Könnte er die nächstgelegene Gemeinde fragen, die auch für seine Stadt verantwortlich ist?
Diese weiß, wer und wie viele Menschen dort jüdisch sind.

Aber na gut, er sucht den Weg über die Medien.
Seit einem Jahr »bekenne« er sich zum Judentum, informiert der Artikel. Seitdem gälte er als Exot. Sei sogar schon antisemitisch angepöbelt worden – wegen der Kippah.

Google hilft dann bei einer Zeitreise. Die gleiche Person. Der Name ist, verbunden mit der geographischen Angabe, nicht sehr häufig.
Hier werde ich schnell fündig. In einem Unterstützerforum für den Salafisten Pierre Vogel.
Er sei so alleine in seiner Stadt. Es gäbe zwar eine Moschee, aber dort möchte niemand mit ihm etwas zu tun haben. Schließlich habe man Vorbehalte gegen die Salafisten. Traurig sei das. Er lade Mitbrüder ein, sich bei ihm zu melden.

Bei Youtube schreibt er zu einem anderen Zeitpunkt, er trage Krischna im Herzen. Leider sei er allein in seiner Stadt und suche Kontakt zu anderen Mitbrüdern und Schwestern. Er würde gerne in den Mönchsstand eintreten.

Erschreckend ist, dass ich mir das nicht ausgedacht habe und dass das Judentum nun ein weiteres Spielfeld des Herren ist.

Die Redaktionen der Lokalzeitungen greifen das begeistert auf und geben das relativ kritiklos weiter. Ohne Hintergrundcheck. Es bleibt zu hoffen, dass sich keine Jüdinnen und Juden bei ihm melden und sich an die lokale jüdische Gemeinde halten.

Aber: Ich bin mir sicher, es wird weitere Religionen geben, die wenig Anhänger in der Stadt haben.

Von Chajm

Chajm ist nicht nur Autor dieses Blogs und Bewohner des Ruhrgebiets, sondern auch Herausgeber von talmud.de und Organisator des Minchah-Schiurs im Ruhrgebiet. Einige seiner Artikel gibt es nicht nur im Internet, sondern beispielsweise auch in der Jüdischen Allgemeinen. Über die Kontaktseite kann man Chajm eine Nachricht senden. Man kann/soll Chajm auch bei twitter folgen: @chajmke. Chajms Buch »Badatz!« 44 Geschichten, 44 zu tiefe Einblicke in den jüdischen Alltag, gibt es im Buchhandel und bei amazon. Sein Buch »Tzipporim: Judentum und Social Media« behandelt den jüdischen Umgang mit den sozialen Medien. || Um per Mail über neue Beiträge informiert zu werden, bitte hier klicken

14 Kommentare

        1. Du bist ja ein echter Humanist 😉 Oder Jew-manist… naja, zum Judentum gehört schon etwas mehr als Selfies mit Tallit und Kippah… Da kann er sich auch einer messianischen Gruppe anschließen. Die machen das auch…

          Vielleicht ist er das – vielleicht auch nicht… die Leser sind mündig 🙂

              1. Na, im Allgemeinen ignorieren Journalisten, oder manchmal auch Politiker die Fakten, da sie, wie es so schön heißt, nicht „einen umgekehrten Ariernachweis“ gegen jemanden führen wollen.
                Will heißen, wenn einer behauptet, Jude zu sein, dann ist er das für die auch (im Gegensatz dazu sprechen die gleichen, eben erwähnten Figuren jemandem ab, der, selbst wenn er den Imam-Segen dafür erhält, andere Menschen in die Luft sprengt, dass ebender mit dem Islam etwas zu tun hat!).
                Zurück zu unserem tapferen Gütersloher Juden (kam da nicht schon ein heutiger, multi-geschäftstüchtiger Rabbi her? Aber das ist wieder was anderes!): wenn er wirklich schlau ist, macht er jetzt noch irgendwas mit Israel-Kritik, behauptet, er werde deshalb von den etablierten Juden nicht wahrgenommen, ja bekämpft; dann ist er ein gemachter Ju…, äh, Mann, denn dieses Geschäftsmodell klappt in Deutschland immer!

    1. @Rainer Rabbi aus Gütersloh? Ich glaube du irrst. Du meinst jemanden der für eine große Firma in Gütersloh gearbeitet hat. Dieser jemand kommt aber nicht von dort. Diese Person kommt aus dem schönen Bayern.
      Zu dem Menschen oben: Der tut einem leid und gleichzeitig möchte man nicht viel mit ihm zu tun haben. Der braucht Hilfe und jemand der ihm zuhört.

  1. In einer intensiv jüdischen Umgebung wäre der Herr sehr flott schon äusserlich als vermutlich nicht dazugehörig aufgefallen. Auf sowas kann auch nur die ignorante deutsche Presse reinfallen.
    Nicht überall, wo “Jude” drauf steht, ist auch “Jude” drin…

    Bleibt zu hoffen, in wichtigeren Bereichen recherchieren sie besser.

      1. @Roman: Wieso beschränkt sich Deine Frage auf Deutschland? Ich würde als Mindestkriterium für “intensiv” mehrere מניינים in der Stadt aus שומרי שבת anlegen.

        Eine “Gemeinde” kann sowas sicher nicht entscheiden, schon gar nicht in Deutschland, wo es das eine oder andere Vorstandsmitglied gibt, dessen halachischer Status kritischer Überprüfung kaum standhalten dürfte. Das ist wohl eher Aufgabe von einschlägig qualifizierten רבנים.

        @Michail: Ich bin nicht bei ספר אנפין.

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