In Hessen gibt es zahlreiche Orte mit Friedhöfen, die zumindest teilweise die Zeiten überdauert haben. In nahezu jeder Ortschaft scheint es eine Mikweh gegeben zu haben. Einige davon, wurden erst jüngst wieder entdeckt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Mein Streifzug zeigte in erster Linie all die Dinge, die nicht mehr da sind und wie sehr sich das Leben auf »dem Land« vom Leben in den Ballungsräumen unterschied. Keine Grundrisse von Reformsynagogen, sondern traditionelle aschkenasische Synagogen. Die große Anzahl von Mikwaot zeigt natürlich, dass sie gebraucht wurden, so banal das auch klingen mag. Ganz unromantisch kann man aber auch festhalten, dass Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts hier ein radikaler Schrumpfungsprozess einsetzte. 1936 schrieb Lily Hirsch im Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde Frankfurt (Heft 12) über die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Hessen-Nassau:

Keine Provinz weist eine so starke Landbevölkerung auf wie Hessen-Nassau. […] Keine der jüdischen Mittel- und Kleingemeinden unserer Provinz umfasst heute noch 200 jüdische Gemeindemitglieder, während 1932 noch 3 Gemeinden an 400 herankamen. Bad Homburg ist von 400 Mitgliedern im Jahr 1932 auf 195 heruntergegangen, Schlüchtern von 375 auf 194, Hersfeld von 360 auf 181. Diese Zahlen nach dem Stand vom 1. April dieses Jahres dürften heute schon wieder überholt sein. Wie schnell die Veränderungen vor sich gehen, wie schnell Gemeinden völlig verschwinden können, mögen zwei Beispiele zeigen: Die Gemeinde Ulmbach bei Schlüchtern mit ursprünglich 32 Seelen zeigte im April 1936 noch 4 Gemeindemitglieder an und hat sich in diesen Tagen völlig aufgelöst. Gelnhausen mit einem Bestand von 207 Seelen im Jahre 1932, ist 1934 auf 127 zusammengeschrumpft und meldete am 1. April 1936 noch 66 Mitglieder. Die Gesamtzahl der Gemeinden mit über 100 Seelen ist von 33 auf 14 zurückgegangen, dagegen haben sich die Zwerggemeinden (1 – 49 Seelen) von 64 im Jahre 1932 auf 90 im Jahre 1936 vermehrt, ein Schrumpfungsprozess, dessen Ende man vorausbestimmen könnte. Lily Hirsch in: Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main, 1936, Heft 12 (September 1936)

Sie schließt mit:

Es ist traurig zu wissen, dass viele Gemeinden unseres jahrhundertelang von Juden besiedelten Bezirks in kurzer Zeit verödet sein werden, Gemeinden, von deren einstiger Bedeutung Synagogen, Friedhöfe, Urkunden und Familiennamen zeugen. Lily Hirsch in: Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main, 1936, Heft 12 (September 1936)

80 Jahre später habe ich einige dieser Orte besucht und bin (mit Ausnahme der Städte und eines Ortes) durch Gegenden gekommen, in denen (nahezu?) keine Juden mehr leben. Nur noch Erinnerung. Felsberg war eine Ausnahme. Hier wird eine alte Synagoge renoviert und soll wieder einer kleiner (liberalen) Gemeinde dienen. Bereits auf dem Weg nach Hessen, kommt man an Warburg vorbei. Eine Stadt, in der es 1946 noch ein »Rabbinat« gegeben hat und wo es heute nur noch einen jüdischen Friedhof gibt.

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Hilfreiche App

Hilfreich war bei dieser Reise die Web-App »Orte Jüdischer Geschichte«. Problem bei der App war, dass es keine skalierbare Karte gab und die App in Wikipedia-Artikel springt. Die Artikel dort nennen häufig keine Adresse, so dass man das Navi nicht füttern konnte. In der mobilen Anzeige zeigten die Artikel auch keine Koordinaten an. Ein Absprung in google-Maps auf dem Smartphone war also leider nicht möglich. Ergänzende Informationen gab es auf den Seiten von Alemannia Judaica. Hier gäbe es für beide Projekte sicherlich interessante Synergieeffekte. Spontan dachte ich, es sei keine schlechte Idee, all diese Informationen in einem Projekt zu bündeln. Die Artikel aus der Wikipedia ziehen und mit denen der Alemannia Judaica ergänzen. Wenn dann noch vernünftige Geodaten und Adressen ergänzt würden, hätte man schon eine sehr ausführliche Datenbank der früheren und aktuellen jüdischen Gemeinden. Dass all dies nebeneinander besteht und nicht miteinander verbunden ist, ist nicht sehr optimal. Hier besteht Gesprächsbedarf.

Die frühere Mikweh von Heubach Die frühere Mikweh von Heubach

Gespräche während der Reise

An einigen der Orten hatte ich das Glück, inhaltlich wirken zu dürfen. Ich versuchte, eine Art dwar Torah interessierten Zuhörern zugänglich zu machen und sie dafür zu begeistern, Texten mit (jüdischen) Kommentatoren zu lesen und auf Wortebene zu hinterfragen, was eigentlich tatsächlich im Text steht. Ohne gleich eine fertig abgepackte Moral mitzuliefern. Im Hinblick auf die anstehenden Feiertage handelte es sich um die Geschichte von Jonah, aber auch um die Geschichte von Jehudah und Tamar. Die eignet sich gut, weil es eine Geschichte für »Erwachsene« ist und es erlaubt, auf ein paar Nebenaspekte eingehen zu können. Warum steht sie in der Erzählung von Josef? Wäre das ein Beweis für eine Quellentheorie? Was ist das Problem von Onan? Um auf Wortebene einsteigen zu können, bot sich natürlich Jonah gut an. Der Klassiker wäre der Wal, der im Buch Jonah nicht vorkommt, wohl aber ein Dag Gadol (großer Fisch) und später eine Dagah, die weibliche Form des Wortes Fisch. Bei den Zuhörern handelte es sich um Erwachsene und an Vormittagen um Schüler der Oberstufe. Während die Erwachsenen Fragen zum Text stellten, oder stellen sollten, war das »Thema« Jonah der Türöffner für die Gelegenheit, mal mit jemandem zu sprechen, der etwas über das Judentum aus erster Hand weiß. Welche Fragen brennen in ihnen, wenn es um die Begegnung mit Judentum geht? Natürlich gab es praktische Fragen: Wie feiert man Feiertage? Muss man da nicht arbeiten? Lernen alle Juden Hebräisch? Was machen Juden an Weihnachten? Die Frage nach Antisemitismus wurde hier und da gestellt (wenngleich meist sehr vorsichtig), stand aber nicht im Mittelpunkt. Lediglich einmal wurde die Frage nach »den Palästinensern« gestellt – durch einen Lehrer. Besonders bewegt waren die Schüler von anderen Themenkomplexen. So haben sie besonders nach dem »Leben nach dem Tod« und dem »Kommen des Maschiach« gefragt und immer wieder nachgesetzt. Hier gibt es scheinbar doch die Frage nach den »großen« metaphysischen Themen unter Jugendlichen – vielleicht weil man auch in religiösen Organisationen gerne richtige religiöse Fragen gerne etwas vermeidet. Nach der Fragerunde gab es noch wenige persönliche Gespräche mit Jugendlichen. Einige hatten noch persönliche Bemerkungen, andere wollten etwas mehr über ein bestimmtes Thema erfahren. Ein Schüler wollte wissen, ob das Kommen des Maschiach nicht nur Krankheiten heilt, sondern auch Behinderungen. Er selber sei behindert. Das ist eine Frage, auf die man sich natürlich nicht vorbereiten kann und die einen theoretischen Rundflug mal eben erdet.

Ehemalige Synagoge Großkrotzenburg Ehemalige Synagoge Großkrotzenburg

Die Diskussion mit den »erwachsenen« Teilnehmern war ein andere. Zum einen ging es natürlich um die Texte. Hier gab es interessante Rückmeldungen und Wahrnehmungen. Es scheint, als hätte die Beschäftigung mit verschiedenen Bedeutungsebenen der hebräischen Worte etwas bewegt und neue Fragen ausgelöst. Zum anderen wurde hier auch konkret nach aktuellen politischen Themen gefragt. Verändert die Anwesenheit von Menschen aus Syrien das Sicherheitsbedürfnis? Haben die jüdischen Gemeinden heute die Möglichkeit, wieder offen für alle zu sein? Hier ging es konkret darum, dass mit jüdischen Personen diskutiert wurde, wie viel Offenheit sich eine jüdische Gemeinde leisten kann und soll. Hätte ich vor Jaaaahren noch gesagt: »Klar. Wir müssen offen sein. Das führt zum Abbau von Missverständnissen und vermeidet Fremdheit« so antworte ich heute: »In einem begrenzten Rahmen. In einer Umgebung, die nicht immer freundlich ist, bin ich auch dankbar für einen eigenen Raum. Man kann das große Interesse nicht überall bedienen und sollte die Möglichkeit haben, sich zurückzuziehen. Auch für interne Diskussionen die nicht in die Öffentlichkeit gehören.«

Übrigens auch bemerkenswert war das Gespräch mit einem Handwerker in einer der Einrichtungen. Der sah mich über einen Flur gehen, hielt mich an und erkundigte sich wirklich interessiert nach meiner Kippah. Wie das »Ding« genannt würde, warum man das trägt und vor allem: Wo kauft man das?

Frankfurt und Ausblick

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Endpunkt war Frankfurt. Hier ist die Welt natürlich eine andere. Man kann koscher einkaufen, auf dem Main schwimmt ein Pop-Up Boat des Jüdischen Museums mit dem Tel-Aviv Beach und es gäbe mehr als eine Möglichkeit, mit anderen Juden zu beten. Aber noch findet das jüdische Leben auch außerhalb der großen Metropolen statt. Noch, weil wir annehmen können, dass es das nicht mehr lange tut. Sergio Della Pergola (in »A road to nowhere? Jewish experiences in the unifying Europe« herausgegeben von Julius H. Schoeps und Olaf Glöckner, Seit 34) hat analysiert, dass eine Gemeinde eine kritische Masse von mindestens 3200 bis 4800 Mitgliedern haben muss, um zu überleben. In Deutschland wären das Berlin, Frankfurt, München, Düsseldorf und Köln. Das Ruhrgebiet gehört nicht dazu. Es ist zwar ein Ballungsraum, aber alle Gemeinden agieren für sich und haben keine gemeinsame Verwaltung. Alle anderen Gemeinden werden aufgelöst werden müssen. Hier würde sich der Kreis zum Beginn dieses kleinen Berichtes schließen. Man kann also hoffen, dass die Reise in die Vergangenheit, nicht zugleich eine in die Zukunft war.