Zeit online: Wir lebenden Juden

Maxim Biller ist natürlich ein großartiger Autor – und, wie sich herausgestellt hat, ein Experte für Literatur.
Ein Jude mit einer Nase für aktuelle Entwicklungen im Bezug auf das »feuilletonistische Judentum« (Jahreshauptversammlung dieser jüdischen Strömung ist »Tarbut« auf Schloss Elmau, aber vermutlich würde Maxim Biller die Leute dort nicht mögen).
Provozierend hat er behauptet, in Deutschland sei kein jüdischer Intellektueller mehr zu finden, oder so. Nein, eigentlich hat er das nicht getan. Er sagte in einem Interview:

Wo sind die anderen jüdischen Leute in Deutschland, die wie ich versuchen, den nächsten großen Roman zu schreiben? Müssen die alle wirklich Ärzte, Anwälte oder Springer-Journalisten sein? Kann da nicht einer dabei sein, der eine geniale Sinfonie komponiert, ein verrückt teures Bild malt oder ein Buch schreibt, über das sich Juden und Nichtjuden gleichzeitig aufregen? Müssen die Kinder und Enkel der seit 1945 in Deutschland lebenden Juden wirklich alle so bürgerlich, langweilig und scheinheilig sein? Müssen die wirklich jeden Freitagabend bei ihren Eltern sitzen und so tun, als hätten sie noch nie in ihrem Leben einen Joint geraucht?

Maxim Biller im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen im April 2016

Er setzte noch hinzu:

Geld, Immobilien und Prada-Handtaschen heilen keine Wunden, wer das denkt, ist total naiv.

Maxim Biller im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen im April 2016

Ja. Defintiv. Die Kandidatinnen und Kandidaten gibt und gab es auch. Aber der Leser bzw. die Leserin hat gemerkt, hier wird auch ein Alleinstellungsmerkmal konstruiert. Einige Monate blieb das unwidersprochen. Jetzt gibt es einen Beitrag von Mirna Funk auf den Internetseiten der ZEIT dazu:
Wir lebenden Juden. Der Artikel stellt ein paar Kandidaten einer Generation vor, die sich selber als ziemlich smart empfindet, die Biller so nicht wahrgenommen hat. Vielleicht hat er sie aber wahrgenommen und wollte mal schauen, wann die jüdischen Kulturschaffenden von heute ihre Joints zur Seite legen und dazu Stellung beziehen.
Kann aber auch sein, dass sie mit den Schultern gezuckt haben und einfach weiter das gemacht haben, was sie den Tag über so (in Berlin) machen. Vielleicht dachten sie: Was juckt mich schon schon jemand, der gerne als jüdischer Intellektueller wahrgenommen werden möchte? Vielleicht stört sie es aber auch, dass jemand an ihrem Alleinstellungsmerkmal sägt.

Übrigens: der Artikel kommt nicht aus dem Nichts. Viele der Protagonisten, wie auch jemand vom Literaturteil der Zeit und der Autorin des Artikels, waren zuvor auf einer Veranstaltung des Maxim-Gorki-Theaters eingeladen.

Von Chajm

Chajm Guski ist nicht nur Autor dieses Blogs und Bewohner des Ruhrgebiets, sondern auch Herausgeber von talmud.de und Organisator des Minchah-Schiurs im Ruhrgebiet. Einige seiner Artikel gibt es nicht nur im Internet, sondern beispielsweise auch in der Jüdischen Allgemeinen. Über die Kontaktseite kann man Chajm eine Nachricht senden. Man kann/soll Chajm auch bei twitter folgen: @chajmke. Chajms Buch »Badatz!« 44 Geschichten, 44 zu tiefe Einblicke in den jüdischen Alltag, gibt es im Buchhandel und bei amazon. Sein Buch »Tzipporim: Judentum und Social Media« behandelt den jüdischen Umgang mit den sozialen Medien. || Um per Mail über neue Beiträge informiert zu werden, bitte hier klicken

19 Kommentare

  1. Interessant. Will die Autorin Lena Gorelik wirklich als jemand umschreiben, der “den nächsten großen Roman zu schreiben” versucht “oder ein Buch schreibt, über das sich Juden und Nichtjuden gleichzeitig aufregen” ??? Tatsächlich trifft Biller ins Schwarze, denn Autoren wie Gorelik sind tatsächlich “bürgerlich, langweilig und scheinheilig”.

    Wenn Gorelik und Grjasnowa (sie sollte ihrem Namen lieber Ehre machen), Titel wie “Mit Brüsten heißt nicht ohne Hirn” fabriziert weiß man was drin steckt, ohne den Artikel je geklickt zu haben.

    Und wofür erhält Petrowskaja einen renommierten Preis? Hierfür: Vielleicht Esther – “Es ist die Geschichte einer jüdischen Großmutter, die 1941 von den Nationalsozialisten verschleppt und ermordet wurde.”

    Solche Texte quillen mir zu Ohren raus.

  2. Hab mir ein paar von den Leuten geklickt, die meisten kannte ich, ungebildeter Kunstbanause, überhaupt nicht. Auf Billers Beschreibung will niemand passen. Wen meinst du?

    Gorelik & Co. schreiben halt Trivialliteratur und werden zu vielen Themen um Meinung gebeten, unverdient – meiner Meinung nach. Biller lese ich gern, er ist ein jüdischer Hooligan, richtig zum Hassen. Seine Figuren tun nur das, wozu sie Lust haben und bekommen auch mal von der eigenen türkischen Freundin einen Handjob spendiert, wenn sie deprimiert sind. Sie tun also all das, was ein Jude in der öffentlichen Wahrnehmung nicht tun darf und wenn ich mir Lena Gorelik (das Mütterchen) so anschaue auch niemals tun wird.

  3. Also, Petrowskaja und Grjasnowa schreiben wirklich hervorragende Texte, auch, aber nicht vorrangig dafür, dass sie erst relativ spät deutsch gelernt haben. Die sollte man lesen, bevor man sie pauschal in irgendwelche Töpfe schmeißt. Mir fehlt übrigens in der Diskussion Alina Bronsky, gerade für diejenigen, die glauben, von Autoren jüdischer Zugehörigkeit thematisch immer dasselbe zu lesen.

    Ein Problem habe ich allerdings mit dem Feuilletonbegriff des Intellektuellen. Ich habe Personen kennen gelernt, die ich dem universitären Begriff des Intellektuellen zurechnen würde, nur kennt die außerhalb ihres Fachbereichs kaum jemand, weil sie ihre Zeit nicht dafür hergeben wollen, in Massenmedien aufzutauchen. Da würden Leute wie Habermas und Biller nicht unbedingt zugehören.

    1. Relativ spät? Grjasnowa kam mit 11 nach Deutschland, Biller mit 10 – Na und?. Ich habe oben bereits ein paar Texte erwähnt und ja sie sind langweilig, und ja sie bringen wenig neue Erkenntnisse. Und was meinst du mit Töpfen? Wenn Gorelik und Grjasnowa einen Text über Brüste und Hirn schreiben, dann machen sie es sich selbst im selben Topf gemütlich.

      Alina Bronsky (“Ich bin eine schreibende Hausfrau”) schreibt Jugendbücher, Thema: “Sascha ist 17, lebt in einem Hochhaus-Ghetto und hat zwei Vorsätze: Sie will für ihre Mutter ein Buch schreiben, und sie will Vadim töten.”, sie schreibt Bücher wie “Baba Dunjas letzte Liebe”. Vor allem ist sie nicht jüdisch und sie thematisiert es auch nicht. Wo irrt also Biller?

      1. Alina Bronsky hast du also auch nicht gelesen. Woher willst du wissen, dass sie nicht jüdisch ist? Biller irrt darin, dass es keine anderen Künstler in Deutschland gibt, die dem Judentum verbunden sind, und versuchen in Abgrenzung zu bloßer Popkultur ernsthaft Kunst herzustellen.

        1. Ich habe Bronskys Jugendbücher nicht gelesen, richtig. Die Tatsache, dass sie nichtjüdisch ist ergibt sich religionsgesetzlich daraus, dass ihre Mutter keine Judin ist und auch sonst kann ich keine jüdischen Texte oder eine Aussage zur Selbstidentifikation finden. Ich frage mich, wie man ein Interview bei der größten jüdischen Zeitung abliefern kann ohne auch nur eine Aussage zum Judentum aufzunehmen. Seien wir ehrlich, der Artikel ist inhaltsleer: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/23255

          Wenn Biller irrt, dann bitte ein paar Künstler seines Niveaus nennen. Er hat seine Kriterien jedenfalls ziemlich klar formuliert, wie ich finde.

          1. Das Maxim Biller Kriterien mal klar formuliert hätte, halte ich für ein Gerücht ;-). Sie/Du hätten/hättest im Grunde jemanden aufgezählt, der literarisches Niveau hat, dem orthodoxen oder konservativen Judentum entstammt und sich inhaltlich mit dem Judentum auseinander setzt. Kenne ich nicht. So wenig, wie ich irgendwen einer anderen Religionszugehörigkeit kenne, der so über seine Religion auf deutsch schriebe. Ich lese bei Biller aber auch nicht, dass er nur strenggläubige, “religionsgesetzlich” gezeugte jüdische Schriftsteller meint.

            Die JA hätte Bronsky nun aber auch nicht interviewt, wenn sie an ihr nicht irgendeine Verbundenheit zum Judentum gesehen hätte. (Wieso sollte sie sich eigentlich zum Judentum auslassen, wenn sie dazu gar nicht gefragt wird?) Und wenn man solche Schriftsteller betrachtet, lässt sich beispielsweise schon feststellen, dass Bronsky mit “Die schärfsten Gerüchte aus der tartarischen Küche” eine brillante Abrechnung mit dem Typus der russischen Übermutter geschrieben hat.

            Soll hier wirklich ein Unterschied gemacht werden, dass Billers Mutter jüdisch war, andere Mütter nicht, wo ihm das “jüdisch sein keine Rolle spielt”?

            1. Ich schrieb bereits, dass Bronsky weder religionsgesetzlich jüdisch ist, noch (!) sich sonst mit (ihrem/dem) Judentum befasst. Das geben die Texte einfach nicht her. “[…] eine brillante Abrechnung mit dem Typus der russischen Übermutter geschrieben hat”, meinst du jetzt die jüdische Übermutter oder tatsächlich die russische Übermutter (noch nie von so einer gehört)? Was hat es denn dann mit dem Judentum zu tun, wenn sie mit ihr abrechnet (mit der jüdischen Übermutter kann sie gar nicht abrechnen)?

              Bei Biller spielt das Jüdischsein eine herausragende Rolle, siehe “Esra” oder “Ein gebrauchter Jude”.

  4. Sicherlich ist Biller entnervend in seiner Egozentrik – zu seiner Zeit, muß man gleichwohl anerkennen, war jedoch der fachliche Radius unter jüdischen Studenten in D tatsächlich nicht eben groß. Die grandiose Sicht auf die eigene (also Billers) Bedeutsamkeit aber mit einer mindestens ebenso grandiosen Sicht auf die eigene Bedeutsamkeit (also Funks und ihres Freundeskreises) zu kontern, ist aber nicht weniger entnervend. Seltsam finde ich außerdem die Behauptung, „die Deutschen“ wünschten sich mehr jüdische Kultur. Oder mehr Kulturjuden. Soweit ich weiß, hat ein ausgesprochenes Bedürfnis hierzu vor allem einer bekundet, der als Gradmesser schwer taugt. Thilo Sarrazin. Daß einige den feuchten Traum der Reversierbarkeit der Geschichte träumen, in dem natürlich die Juden nicht fehlen dürfen – geschenkt. Aber auch das ist irgendwie kalter Kaffee und nicht mehr.
    Jung, hip, mehrsprachig und reiseerfahren ist kein jüdisches Alleinstellungsmerkmal. Hip Aussehen auch nicht. Viele Sachen können, auch nicht. Wäre ein wenig Bescheidenheit mit von der Partie, müsste man anerkennen, daß uns von der Generation, mit der dem deutschen Judentum ein schreckliches Ende bereitet worden ist, nicht allein Jahre und die traumatischen Erfahrungen eben dieser und unserer Eltern-/Großelterngeneration trennen. Warum reicht der Gruppe die Feststellung nicht, daß wir fünfeinhalb Juden in D leben und gottseidank einfach unser Ding machen (können)? Und vielleicht noch, daß wir inzwischen tatsächlich berufstechnisch in der Normalität angelangt sind und selbst in Sachen Selbstdefinition uns international messen können. So, wie es viele andere begabte und weniger begabte und ganz und gar unbegabte Leute auch tun. Nein, sie muß auch noch mit der traumatisierten Verwandtschaft hausieren gehen – besonders ist das zwar schon, aber nichts, wofür man in die Zeitung muß. Zuguterletzt auch noch die Behauptung, „für alle Juden“ zu sprechen, die in D leben – die Vereinnahmung ist schon gehörig chutzpedik. Daß der Begriff „Kulturjude“ in einem Feature über sich selbst einem Artikel fällt, in dem vierzig Prozent der Sätze frei nach Pigor zu sagen scheinen: „Wie findest Du eigentlich meine Frisur?“ und auf Höhepunkte zusteuern, die dann keine sind, läßt zweifeln, ob sie eigentlich Maßstäbe hat. Denn zum Kulturjuden reicht es nicht, einfach in der Branche tätig zu sein – will sie allen Ernstes mit Klemperer oder Adorno in den Ring steigen?

  5. “Und sie wissen auch nicht, dass das erstarkende Reformjudentum solche Unterschiede längst nicht mehr macht.”

    Ich hatte ja schon frueher den Verdacht, dass selbsternannte “Intellektuelle” mit dieser Selbstzuschreibung nur ihre Schwaeche in u.a. elementarer Statistik zu kaschieren suchen.
    “Erstarkend”? Echt jetzt? Einfach mal die einschlaegigen Studien der letzten Jahre lesen! Setzen, sechs!

  6. Ich finde diese Diskussion irgendwie verwirrend. Worum geht es eigentlich?

    “Woher willst du wissen, dass sie nicht jüdisch ist?”
    “Jüdisch sein” findet in Kreisen abseits der jüdischen Gemeinden öfters mal vollkommen jenseits von Halacha statt. Mirna Funk ist schliesslich auch nicht halachisch jüdisch, das war allerhöchstens ihr jüdischer Urgroßvater Stephan Hermlin. Vielleicht ein neuer Trend? “Mein Urgroßvater war jüdisch und darum bin ich es auch?” (Was ist eigentlich mit den nichtjüdischen Groß- und Urgroßeltern? Erstaunlicherweise war ihre Leidenschaft so groß, dass sie es sogar nach IL gezogen hat.) Auf der anderen Seite ist es schon irgendwie bizarr, dass da, wo die mütterliche Linie intakt ist, keiner mehr auch nur ein Wort darüber verliert, dass diese Leute, wenn man das rein formal halachische mal weglässt, in ihrer Beziehung zum Judentum genauso viel oder wenig jüdisch sind wie die mit “nur” einem jüdischen Vater/Großvater. Überraschenderweise finden Menschen Judentum dann doch immer wieder ganz woanders als man konservativ es verortet und greifen Dinge auf… mal sehen, wo das noch so hinführt.

    1. Danke für das Stichwort – ich fürchte nämlich auch, es ist eine künstliche, mit genetischen Faktoren angereicherte Diskussion. Will sagen: die Behauptung eines letzten Rests jenes mal übel beleumdeten, mal sagenumwobenen deutschen Judentums versucht sich hier an territorialen Ansprüchen. Nur entbehrt das nicht einer gewissen Lächerlichkeit. Und zeugt von einer dramatischen Naivität im Umgang mit, jüdischer, deutsch-jüdischer und nichtjüdischer, Geschichte. Denn – was ist eigentlich deutsches Judentum? Eine DNA-Sequenz oder nicht doch vielmehr ein komplexes Fluidum, eine Welt, zwar nicht wie in Celans Beschreibung seines Herkunftsorts, aber doch eine mit vielen Gegenübern und ihren aktuellen Diskussionen und Fragen. Was wiederum nicht bedeutet, daß es uninteressant ist. Denn natürlich wäre es spannend, zu erforschen, aus welchen Quellen sich dieses merkwürdige Denken im Artikel speist. Aber das wäre dann vermutlich eine soziologische und psychologische Untersuchung, die den Anspruch der besagten Gruppe noch einmal unbedeutender werden läßt.

  7. “Übel beleumdetes, mal sagenumwobenes deutsches Judentum” – ähm, was soll das denn sein?
    Die Gemeinden nach dem Krieg bis “die Russen kamen” waren doch schon kein “deutsches Judentum” mehr. Oder meinst Du das ironisch verkürzt, so wie “russisches Judentum” (was es ja so auch nicht gibt)? Ich kenne auf jeden Fall kein deutsches Judentum in Deutschland. Ich kenne einzelne Leute, die entweder Vorfahren haben, die aus (Vorkriegs-) Deutschland stammen oder welche, die da ein Sentiment haben. Was mich dann immer etwas irritiert, denn mir ist nicht so klar, wonach die suchen. Nach einer Welt vor Hitler, vor der osteuropäisch durchsetzten Nachkriegszeit und vor “den Russen” – als die (jüdische) Welt noch in Ordnung war? 😉
    Sorry, das ist jetzt etwas off topic.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert