Der »Doktor« war etwa 90 Jahre alt. Ein hagerer Mann. Er sah nicht mehr besonders gut und war deshalb auf Hilfe angewiesen. Wenn ich an einem Abend bei ihm war, half ich ihm, warme Milch vorzubereiten, entfernte für ihn Krusten von Broten und unterhielt mich mit ihm über das, was sein Leben ausgefüllt hat. Er kam aus dem Ruhrgebiet, wuchs dort auf bis ihn die Nazis vertrieben, er verlor einen Teil seiner Familie, er kehrte zurück nach Deutschland, wurde Zahnarzt, hatte ein »ausgefülltes« Leben. In seinem Alter zeigte er eine Art »Dankbarkeit« für das, was er gutes erlebt hatte und Verbitterung nur über diejenigen, die ihm das Leben nehmen wollten. Das verlieh ihm eine gewisse Ruhe. An einem Sommertag brachte ich ihn zu einem Kardiologen. Der konnte den Zustand seines Herzschrittmachers überprüfen und teilte dem »Doktor« mit, dass die Batterie nun endgültig leer sei. Von einem Austausch würde er abraten. Der »Doktor« nahm das mit Fassung und fuhr mit mir nach Hause. Er wirkte vollkommen ruhig und sprach nicht weiter darüber. Viele Tage, einige Monate, vergingen. Mal half ich ihm mit dem Abendessen, mal half ich ihm mit dem Frühstück. Dann folgten schwächere Tage. Er konnte das Bett nicht mehr verlassen und am Ende nur noch mit Mühe sprechen. Die Kräfte verließen ihn und noch immer war er ruhig und gefasst. Eines Tages schlief er ein und wachte nicht wieder auf.

Eine andere Dame ging auf die 100 zu. Aber sie wirkte nicht gebrechlich, sondern überaus agil und wach mit einem recht trockenen Humor und jeder ihrer Sätze war druckreif. Ein Austausch von Floskeln lag ihr nicht, Gespräche musste irgendein relevantes Thema streifen. Wen interessiert schon das Wetter? Ich mochte ihren Akzent. Sie wuchs in Czernowitz auf. Zu einer Zeit, in der viele Juden der Stadt Deutsch sprachen. Ihr Alter merkte man ihr nur dann an, wenn es darum ging, größere Herausforderungen anzugehen. Einen Ausflug in den Supermarkt traute sie sich nicht mehr zu. Aus diesem Grund bat sie mich, ihr Süßstoff zu besorgen. Weil ich es für »praktisch« hielt, brachte ich ihr eine große Packung mit. 1000 Süßstoff-Tabletten. Als ich ihr die gab lächelte sie. »Sie wissen doch wie alt ich bin, nicht? Rechnen wir gemeinsam, für wie viele Jahre dieser Vorrat an Süßstoff ausreichen wird. Ich trinke jeden Tag eine Tasse Tee mit Süßstoff. Ich denke also, dass der Süßstoff den Rest meines Lebens vorhalten wird. In meinem Alter ist das ein durchaus übersichtlicher Zeitraum.« Aber es machte ihr nichts aus. Wenn ich mit ihr sprach, schockierte mich die »Zukunft« vielleicht noch etwas mehr als sie. Diese Ruhe derjenigen, die auf ein langes Leben zurückschauten, wirkte auf mich im wahrsten Wortsinne »beruhigend«. »Sorgen sie dafür, dass sie etwas haben, worauf sie später zurückschauen können.« war ein Apell der Dame an mich. Also an den jungen Mann (damals) der ihr half und den die überschaubare Lebenserwartung ein wenig mit Ehrfurcht erfüllte – aber nicht mit Furcht.

Die eigene Endlichkeit betrachtete mich später erst aus den Augen eines neugeborenen Babys. Du hältst ein Baby in den Armen und weißt plötzlich, dass dieser Mensch dein eigenes Leben überdauern wird. Das war eine andere Wahrnehmung der »Endlichkeit« des Menschen. Furcht? Ehrfurcht? Transzendenz am Ende?

Das sind immer kleine Augenblicke. Kleine Blitze. Im jüdischen Jahr ist es ritualisiert. Etwa dann, wenn gefordert wird den »Kittel« anzulegen – das Totenhemd. »Kleine Augenblicke« sind auch Mitteilungen von Todesfällen. Besonders dann, wenn man die Menschen gekannt hat. Verstärkt dann, wenn sie »vor der Zeit« gehen. Der Tod eines »Prominenten« kann das auch sein. Bei Roger Willemsen war es so. Eine Person, die die Medien seit meiner Jugend bewohnte und die ich für sympathisch hielt, weil sie immer etwas aus der Zeit gefallen wirkt(e). Als es die Zeitung »Die Woche« noch gab, hatte Willemsen eine Kolumne dort. Hin und wieder schrieb er ein Buch über das man sich unterhalten konnte. Er schrieb eigentlich äußerst viele Bücher, aber nicht alle habe ich gelesen. Ich war nicht »Fan«, sondern vielleicht sympathisierender »Begleiter«. Er war jemand, von dem andere schreiben, er habe »intensiv« gelebt, was in diesem Zusammenhang ausnahmsweise nicht bedeutete, dass er sich mit Alkohol und Drogen das Leben selber verunstaltet hat. Hier bedeutete das tatsächlich, dass ein Mensch versucht hat, möglichst viel zu tun. In der Nachbetrachtung wirkt das Motto, dass Roger Willemsen zur Bewerbung seines Buchs »Momentum« ausgegeben hat, sehr glaubhaft: »Das Leben kann man nicht verlängern, aber wir können es verdichten.«. Ich hätte mir gewünscht, dass er mehr Zeit dafür gehabt hätte, zurück zu schauen. Und zugleich denke ich daran, dass dies auch die »ehrliche« Haltung ist, die durch jüdische Texte scheint. Keine Orientierung daran, dass »später« einmal alles besser ist, sondern ein Festhalten daran, wie schön das Leben sein kann und dass man sich natürlich wünscht, es würde niemals aufhören. Im Buch Jeschajahu (38,18-19) wird König Chiskijahu zitiert: »Denn der Scheol preist dich nicht, der Tod preist dich nicht; die in die Grube hinabgefahren sind, hoffen nicht auf deine Treue. Der Lebende, der Lebende, der preist dich.«

Rabbi Joseph Soloveitchik erzählt in seinem Buch »Isch haHalachah«, die größten »Torah-Giganten« hätten sich vor dem Tod gefürchtet. Sein Onkel R. Meir Berlin (Bar-Ilan) etwa. Als er eines Morgens die Strahlen der aufgehenden Sonne über dem Meer betrachtete, sei er zugleich voller Ehrfurcht vor diesem Naturschauspiel gewesen und zugleich voller Furcht und Melancholie. Er sagte deshalb zu Rabbiner Chajm von Brisk, er sei deshalb so traurig und bedrückt, weil er gerade angesichts des Schauspiels an den Tod denken müsse. Ein kleiner Blitz. Und vielleicht gerade deshalb gilt das, was die Süßstoff-Dame mir als Aufforderung mit auf den Weg gab.