Daniel Kahn und Sasha Lurje im Gemeindesaal der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen Daniel Kahn und Sasha Lurje im Gemeindesaal der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen

Bevor das Konzert begann, wartete eine Kiste auf der Bühne auf die Besucher. »Verhaltet euch ruhig« stand auf ihr. In Frakturschrift. Ein politisches Statement gleich zu Beginn des Konzerts? Das Thema war doch »strange love songs«? Wird da der Verfremdungseffekt verwendet? Es bleibt offen. Das hätte zu Berthold Brecht gepasst und Sänger (in diesem Fall) Daniel Kahn passt großartig zu Berthold Brecht. Auf der Bühne wirkt er dann wie eine Figur aus einem Stück von Brecht. Er führt selbstironisch durch das Programm, kommentiert die eigene Haltung zu den Stücken und singt natürlich auch Brecht. Auf Jiddisch. Die Übersetzungen stammen von Daniel Kahn selber und wirken, als hätten die Texte nur darauf gewartet, von ihm in die Sprache der eigentlichen Bestimmung übersetzt zu werden. Das mag auch ein wenig an der überzeugenden Interpretation liegen. Ist das aber Klezmermusik? Nein. Natürlich nicht und das stellt Daniel Kahn auch am Anfang des Konzerts fest. Das Konzert stellt dem Zuhörer und Zuschauer statt dessen eine Reihe von abgedrehten Songs rund um das Thema Liebe vor. Mit der, aus Riga stammenden, Sängerin Sasha Lurje, präsentieren sie vorzugsweise böse Lieder und das in russischer, ukrainischer, deutscher, englischer und jiddischer Sprache. Dabei werfen sie die beiden großartig die Bälle zu. Kahn erzählt, unterbrochen von Sasha Lurje, dem Publikum kurz worum es geht, dann trinken beide einen Schluck Wein oder unterhalten sich miteinander. Vielleicht ist das alles einstudiert und choreographiert. Vielleicht ist das aber auch spontan? Wenn man so will, wirkten sie zwischendurch wie ein Mädchen und der böse Wolf. Was das soll, findet man spätestens bei der Interpretation des jiddischen Lieds »Margaritkelach« heraus. Kein Liebeslied, sondern ein Song über Gewalt, Gier und Lust. Wie das funktioniert, zeigt vielleicht dieser kleine Ausschnitt:

Der Querschnitt ist groß. Nicht nur bekannte Kost, wie das genannte Margaritkelach. Auch der, bereits erwähnte Brecht. Die Songs werden meist in mehrsprachiger Variante gesungen. Sasha Lurje singt zahlreiche Lieder die ein russischsprachiges Publikum mit Sicherheit gekannt haben wird und Daniel Kahn singt dazu eine englische Übersetzung. Das gipfelt in einer Interpretation eines Liedes des sowjetischen Chansonniers Bulat Okudschawa (kennt vermutlich jeder, der in der Sowjetunion Wurzeln hat). Daniel Kahn und Sasha Lurje öffneten damit diese Musik einem breiteren Publikum. Es wäre zu wünschen, dass die beiden zu Bulat Okudschawa vielleicht noch etwas mehr machen würden. Zu einem Song spricht Kahn die englische Übersetzung. Auch das passt irgendwie und durch die makaberen Texte ist das auch sehr kurzweilig. Im Publikum schienen einige gewesen zu sein, die wussten, wo der Abend hinführen würde und eben wieder ein paar, die im Verlauf des Abends überzeugt wurden, dass man in jiddischer Sprache auch etwas singen kann, was nicht sofort zu Tränen rühren muss, sondern dass es auch mal ongevorfen sein kann. Brechts Zuhälterballade wäre da ein schönes Beispiel.

Kein Klezmerabend aber irgendwie ein Abend – sagen wir das mal bildungsbürgerlich – der kontemporären jüdischen Musik in der Einflüsse aus vielen Ländern zusammenkommen aus denen junge Juden heute so stammen: Russischsprachige Länder, aus den USA, Jiddisch ein wenig und ein wenig Deutsch. Alles mischt sich und erzeugt eine moderne Interpretation von jüdischer Kultur. Das Programm wird vermutlich noch in anderen Städten gespielt. Wer die Möglichkeit hat, sollte sich das auch anschauen.

Daniel Kahn und Sasha Lurje singen Bulat Okudzhava im Gemeindesaal der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen Daniel Kahn und Sasha Lurje singen Bulat Okudzhava im Gemeindesaal der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen

Dieses Konzert beschloss die Konzertreihe »Klezmerwelten« und zeigte ganz gut, worin die Stärken dieser Veranstaltung lagen. Jüdische und Jiddische Kultur abseits dessen zu präsentieren, was man so gemeinhin mit Klezmer assoziiert. Dass die Veranstaltungen von einem kulturell interessierten jungen jüdischen Publikum nahezu ignoriert werden, wird genau daran liegen, dass das Wort Klezmer eher eine Abwehrhaltung hervorruft. Wenn das Festival im Jahre 2017 erneut stattfindet (was hervorragend wäre), dann wird man hoffentlich auch dieses Publikum ansprechen können.

Meine persönlichen Wunschkandidaten für 2017: Avishai Cohen (das Album Aurora ist schon etwas älter, aber für mich sehr faszinierend) und vielleicht die Petersburger Truppe OPA. Benny Friedman oder vielleicht Avraham Fried? Für den müsste dann schon eine größere Halle her. Aber damit wäre wieder die ganze Bandbreite abgedeckt…