Was denn jetzt?!

Synagoge Baumweg (Frankfurt am Main) im Juli 2014
Synagoge Baumweg (Frankfurt am Main) im Juli 2014
Synagoge Baumweg (Frankfurt am Main) im Juli 2014

Ist es viel, wenn 38,8 Prozent der Flüchtlinge eine antisemitische Einstellung haben und meinen »Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich«?
Das wäre jedenfalls die Prozentzahl derjenigen Menschen, die das in Deutschland annehmen. Wären also etwa ein Drittel der Flüchtlinge Antisemiten, entspräche das dem bundesdeutschen Durchschnitt.
Jeder Antisemit ist einer zuviel.
Egal aus welcher Gruppe.

Aber das Thema wurde medial entdeckt.
Darüber berichtete der Deutschlandfunk (irgendwiejuedisch hat darüber gebloggt, mittlerweile ist der Artikel aber aus dem Netz des Radiosenders verschwunden) aber auch die Welt »Zentralrat der Juden warnt vor arabischem Antisemitismus«.
Der Tagesspiegel analysiert unter der Überschrift »Sorge vor neuem Antisemitismus wegen Flüchtlingen«: »Viele Flüchtlinge kommen aus Ländern mit juden- und israelfeindlicher Kultur, warnen jüdische Verbände« (hier).
Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung titelt ebenfalls »Juden wegen Flüchtlingen in Sorge um ihre Sicherheit«.
Die NWZ gibt einen Evangelischen Pressedienst als Quelle an und titelt etwas wissender: »Angst deutscher Juden wächst«.
Auf der Website evangelisch.de findet man einen Beitrag, der ähnliches verlauten lässt.
Die Sorge ist plötzlich groß, jetzt wo plötzlich offensichtlich ist, dass die Flüchtlinge aus Ländern kommen, in denen sie »den Antisemitismus mit der Muttermilch eingesogen haben« (wie es in einem Artikel heißt). Rührend.

Und dann betrachtet man, wie, teilweise die gleichen Medien, über die Situation vor Ort (im weitesten Sinne) schreiben. Dort, wo sich Menschen mit ähnlicher Erziehung (wenn man den Medienberichten vertraut) mit dem Staat Israel auseinandersetzen.
Hier müsste man nun Verständnis für den Staat erwarten, der, von Antisemiten umgeben, um seine Existenz kämpft. Weit gefehlt.
Hier ist das Schema genau umgekehrt.
Israel ist der Aggressor. Das geht sogar soweit, dass Spiegel Online titelte »Palästinenser sterben bei Messerattacken auf Israelis«, tagesschau online ist der Meinung, bei der Tötung von Juden gehe es nicht um Hass auf Juden. Die Umkehr des Schemas in der Berichterstattung wurde hier bei lizaswelt ganz passend nachvollzogen.

Da lautet meine Frage: Was denn jetzt??!
Kommen da jetzt Horden von Antisemiten aus dem Nahen Osten? Dann wäre es ja offensichtlich notwendig, wenn sich ein Staat in dem größtenteils Juden leben, dagegen wehrt und geeignete Maßnahmen trifft.
Oder: Die Bewohner der Nachbarländer sind friedliche Menschen – aber werden immer wieder von einem expansiven Land mit Krieg überzogen, dass ein Großisrael will (um mit Jürgen Todenhöfer zu sprechen) und sind deshalb manchmal ein wenig sauer auf den Staat mit den vielen jüdischen Bewohnern. Dann hätten die Juden in Deutschland doch nichts zu befürchten?

Oder: Ist es alles ganz anders? Nicht Schwarz-und-Weiß? Wohl eher das. Kommen da vielleicht einfach Menschen? Einige von ihnen sind bestimmt Antisemiten (weil es die überall auf der Welt gibt) und die gehören ebenso bestraft, wie Antisemiten aus regionaler Produktion. Andere sind es nicht.

Dann benötigen wir aber keine Berichterstattung die so tut, als mache man sich ernsthaft Sorgen um das Judentum in Deutschland. Die gab es kaum zum Beschneidungsurteil und die gab es kaum, als der Mob tatsächlich antisemitisch demonstriert hat.
Könnte es vielleicht sein, dass die Juden hier als Deckmäntelchen dienen, um Vorbehalte so zu formulieren, dass sie so klingen, als machte man sich aufrichtig Sorgen?
Und wie sollte man das nennen, wenn man Juden nur für einen Zweck benutzt?

[yellow_box]Update 25. Januar 2016 [/yellow_box]
In diesem Blog (Mandolina) wurde das noch einmal auf den Punkt gebracht:

Denn Antisemitismus ist kein mystisches Spaghettimonster, das sich wahlweise auf verschiedene Bevölkerungsgruppen setzt, dort sein Unheil anrichtet, und dann weiterfliegt, um sich ein neues Zuhause zu suchen. Antisemitismus ist, in diversen Ausformungen und Facetten, ein integraler Bestandteil des christlichen Abendlandes, und wenn jetzt zur „Antisemitismus-Prävention“ Flüchtlingsunterkünfte und Moscheen brennen, dann schützt der weiße Europäer nicht die hier lebenden Juden, sondern benutzt sie zur Legitimation seines eigenen Rassismus.
von hier – Mandolina| Das Experiment

Von Chajm

Chajm Guski ist nicht nur Autor dieses Blogs und Bewohner des Ruhrgebiets, sondern auch Herausgeber von talmud.de und Organisator des Minchah-Schiurs im Ruhrgebiet. Einige seiner Artikel gibt es nicht nur im Internet, sondern beispielsweise auch in der Jüdischen Allgemeinen. Über die Kontaktseite kann man Chajm eine Nachricht senden. Man kann/soll Chajm auch bei twitter folgen: @chajmke. Chajms Buch »Badatz!« 44 Geschichten, 44 zu tiefe Einblicke in den jüdischen Alltag, gibt es im Buchhandel und bei amazon. Sein Buch »Tzipporim: Judentum und Social Media« behandelt den jüdischen Umgang mit den sozialen Medien. || Um per Mail über neue Beiträge informiert zu werden, bitte hier klicken

9 Kommentare

  1. Der Antisemit aus “regionale Produktion” hasst Juden, hasst Israel und will keinen Juden als Nachbarn haben. Der Antisemit aus Arabien hasst Juden, hasst Israel, will keinen Juden als Nachbarn haben, schlägt Juden in der U-Bahn zusammen und versucht Synagogen in Brand zu setzen.

    Wovor sollte man sich mehr fürchten?

    1. Die Diskussion in Buitenveldert verfolge ich ebenfalls, seitdem Ron Eisenmann darüber getwittert hat https://twitter.com/RonEisenmann/status/652935748753170432 – hier ist die Situation aber so, dass die Jüdische Gemeinde das von sich aus diskutiert, ob es eine gute Idee ist, diese Leute in ein Umfeld zu schicken, in dem die jüdische »Präsenz« sehr sehr deutlich ist und verlangt nicht, die Leute nicht aufzunehmen, sondern für Sicherheit im Stadtteil zu sorgen.

      Zugleich wird betont, wie wichtig es ist, die Leute aufzunehmen. Ich konnte da nicht erkennen, dass die Medien das Thema vorantreiben. Das hat die Gemeinde diskutiert, bzw. die jüdischen Bewohner dort.
      Ich finde, das ist ein qualitativer Unterschied in der Herangehensweise.

  2. Ja, und das Ironische ist, dass die “Angst deutscher Juden” tatsächlich “wächst”.
    Also meine Angst auf jeden Fall. Ich hatte unlängst wieder so ein Erlebnis mit muslimischen Jugendlichen – da dachte ich an die Messerstechereien in Israel – und die mangelnde Empathie hierzulande – und wann findet sich der erste Nachahmer in Deutschland. Den Beitrag von Bernard-Henri Levy in der Allgemeinen http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/23713
    finde ich geradezu eine wahre Faust aufs Auge.
    Und ja, vermutlich werden wir benutzt, und am Ende sieht es ohnehin schlecht für uns aus.

    1. Was Bernard-Henri Lévy beschreibt, kam auch bei https://www.sprachkasse.de/blog/2015/10/23/messerattacken-und-die-botschaft-dahinter/ zur Sprache. Die Folgen sind klar: Die Zweistaatenlösung rückt in immer weitere Ferne und genau das ist doch der gewünschte Effekt! Man will doch Israel nicht an den Verhandlungstisch zwingen, sondern einfach Israelis/Juden töten. Darum geht es bei der Messergeschichte.
      Empathie kann man dafür hier nicht erwarten. Das wäre auch überraschend und »Ja« – hätte es mehr als einen solcher Zwischenfälle in Deutschland gegeben, wäre die Hysterie recht groß.

      Und »Nein« – es geht mir ausdrücklich nicht darum, mitgebrachten Antisemitismus zu verniedlichen. Der ist ein Problem, mit dem man umgehen muss. Das ist aber keine jüdische Aufgabe und schon gar nicht vermute ich, dass die Sorge um die jüdische Minderheit plötzlich das Motiv gegenüber den Flüchtlingen ist.

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