Die Grenzen Palästinas nach Rabbiner Joseph Schwarz Die Grenzen Palästinas nach Rabbiner Joseph Schwarz

In hitzigen Medien-Diskussionen rund um den »Nahostkonflikt« (solche Diskussionen sind eigentlich immer hitzig), wird in der Regel irgendein Teilnehmer entweder einen Nazi-Vergleich bringen oder jemand nennt Mahatma Gandhi - soll jedenfalls vorkommen.

In Diskussionen ist mindestens ein Nazi-Vergleich unabdingbar. Einige Blogbeiträge zum Thema kommen meist auch nicht ohne aus. Dieses Phänomen ist längst dokumentiert und betrifft nicht nur Diskussionen rund um den Staat Israel und wird als Godwins Gesetz bezeichnet. Autor Mike Godwin formulierte, dass im Verlauf längerer Diskussionen die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einen Nazi-Vergleich ins Spiel bringt, sich dem Wert Eins annähert. Oder anders formuliert: Es ist sehr wahrscheinlich, wenn die Diskussion nur lange genug dauert. Das ist eine Tatsache mit der wir uns abfinden müssen.

Weil das kein Argument ist, schauen wir ganz kurz auf Gandhi und dieser führt uns überraschenderweise direkt zum Land Israel. Gandhi publizierte und äußerte tatsächlich auch etwas zum Staat Palästina. Er hatte die Idee, dass Juden sich in Israel niederlassen dürften, wenn sie dies friedlich täten. Im Allgemeinen fand er jedoch die Idee des jüdischen Staats anscheinend nicht so sehr reizvoll und riet, insbesondere auch den Juden Deutschlands im Jahr 1939, man solle in den jeweiligen Heimatländern bleiben. Es sei gut, dort zu leben, wo man geboren worden sei. Den arabischen Bewohnern der Region stehe Palästina ebenso zu, wie England den Engländern und Frankreich den Franzosen. Den Juden unter deutscher Herrschaft riet er zum passiven Widerstand. Diese Haltung provozierte natürlich auch Reaktionen von jüdischen Intellektuellen seiner Zeit und klingt nicht nur für heutige Leser sehr naiv.

Einer, der sich öffentlich gegen Gandhi wandte, war der Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965). Es sandte ihm 1939 eine Antwort. Buber war empört über den Aufruf zum passiven Widerstand und sah schon 1939 wohin die Pläne der Nazis führen würden. In Bezug auf Israel, damals ja noch »Palästina«, wies er die Behauptung zurück, das Land gehöre ausschließlich den Arabern. Dies sei aus historischen, rechtlichen und moralischen Gründen nicht richtig. Palästina stehe beiden Völkern zu, die über ihre Geschichte mit diesem Land verbunden seien. Eines von Bubers Argumenten zeigt direkt ins Herz der jüdischen Überlieferung zum Land Israel:

»Mir erscheint es, als gebe G-tt keinen Teil Erde weg … das eroberte Land ist, meiner Meinung nach, auch dem Eroberer, der sich darin niedergelassen hat, nur geliehen und G-tt wartet ab, um zu sehen, was er daraus machen wird.«

Mit diesem Argument zitiert Buber einen Rabbiner, der 900 Jahre vor Buber gelebt hat, nämlich den mittelalterlichen Kommentatoren Raschi (1040–1105), der genau so die ersten Zeilen der Schöpfungsgeschichte in der Torah kommentiert. »Warum fängt die Torah mit der Schöpfungsgeschichte an?« fragt Raschi und antwortet dann unter anderem mit einem Satz, den viele Juden schon einmal als Argument gehört haben:

»Wenn die Völker der Welt zu Jisrael (also zum jüdischen Volk) sprechen sollten >Ihr seid Räuber, denn ihr habt die Länder der sieben Nationen Kanaans gewaltsam genommen<, so könnten sie ihnen zur Antwort geben: >Die ganze Erde gehört dem Heiligen, gepriesen sei er. Er hat sie geschaffen und demjenigen gegeben, der in seinen Augen gerecht war. Nach seinem Willen hat er es denen gegeben und nach seinem Willen ihnen wieder genommen und uns gegeben.«

Heute lesen wir das und reiben uns die Augen angesichts der Tatsache, wie wenig neu die Argumente der Israel-Gegner sind und wie wenig neu das Nachdenken über den Stellenwert jüdischer Präsenz an diesem Ort ist.

In Torah und Tanach wird immer wieder auf das Versprechen hingewiesen, dass G-tt Abrahams Nachfahren das Land Kanaan vererben werde.

In späteren Schriften kann man den Stellenwert des Landes gar nicht hoch genug ansetzen. So fordert der Talmud »Man sollte lieber im Land Israel wohnen, selbst in einer Stadt, in der die meisten Bewohner keine Juden sind, als außerhalb des Landes.« (Kettubot 110b) oder »man kann auch am Schabbat einen Vertrag schließen, um ein Haus im Land Israel zu erwerben.« (Bawa Kamma 80b) Wie lange schon sprechen wir »im nächsten Jahr in Jeruschalajim«? Generationen von Juden wünschten sich eine »Rückkehr« in das versprochene Land.

Diese Texte, Gebete und Überlieferungen sind fester Bestandteil des jüdischen Erbes und dennoch ist der moderne Staat Israel keine rein religiöse Konstruktion.

Die Wurzeln des modernen Staates Israel reichen natürlich zurück bis in die frühesten Texte und Überlieferungen, aber sie tauchen auch in eine politische Geschichte ein und dem Streben der Juden nach Selbstbestimmung. Zu lange hatte man über sein eigenes Schicksal nicht bestimmen können. Ein religiöser Traum wurde erfüllt, aber zugleich wurde ein säkularer Staat geschaffen.

Ein Parlament beschließt die Gesetze. Also nicht etwa die Halachah, also das jüdischen Religionsgesetz ist die Vorlage für die Gesetze des Landes. Der moderne Staat ist ein demokratisches Land wie andere demokratische Staaten. Ein Teil der Bewohner lebt nach der Halachah, ein anderer Teil gar nicht und dann gibt es natürlich auch nichtjüdische Gruppen von Einwohnern. Zugleich und dennoch ist der Staat Israel an das Schicksal des gesamten Judentums geknüpft.

Ist Israel nun also die Erfüllung eines religiösen »Traums«, oder eines politischen? Die Antwort hängt natürlich davon ab, wen man fragt. Damit steht schon einmal fest, dass es eine jüdische Frage ist: Je mehr Menschen man fragt, desto unterschiedlicher sind die Antworten.

Fragt man das »religiöse« Lager, dann ist das religiöse Versprechen nahezu erfüllt und die Errichtung des Staates der »erste Spross unserer Erlösung«. Fragt man säkulare Politiker, dann geht es in erster Linie um die Erfüllung eines politischen Traums. Und dann gibt es wieder diejenigen, denen es wichtig ist, in Eretz Israel zu leben und denen der Staat, der auf diesem Land errichtet wurde, nicht so sehr wichtig ist. Ein solcher Vertreter war Rabbiner Menachem Froman (1945 – 2013). Rabbi Froman war ein führendes Mitglied der Gruppe Gusch Emunim, die sich die jüdische Besiedlung des Landes Israel zum Ziel gesetzt hatte.

Mit Israel definiert Gusch Emunim das Gebiet, dessen Grenzen durch die Torah überliefert wurden. Dieses Land Israel sollten wir als »Eretz Israel« bezeichnen. Rabbiner Froman war später Rabbiner von Tekoa, einer Siedlung südlich von Jeruschalajim. Einem Ort, der von der Weltöffentlichkeit als illegale Siedlung betrachtet wird. Wenn wir das lesen, erwarten wir also einen »Siedler«, einen Hardliner.

Tatsächlich setzte sich Rabbiner Froman für einen jüdisch-islamischen Dialog ein und war davon überzeugt, dass es Frieden geben könnte, wenn es einen interreligiösen Austausch gäbe. Er sprach dazu mit allen Vertretern auf palästinensischer Seite und stand sogar mit der Hamas in Kontakt. Zugleich unterstützte er die Errichtung von Wohnsiedlungen in der Westbank. Er war überzeugt davon, auch in Tekoa leben zu können, wenn die Stadt sich in einem Staat Palästina befände. Das würde er einem Umzug in den Staat Israel vorziehen. Rabbiner Froman wich also von dem Bild ab, welches gerne von den »Siedlern« gezeichnet wird, blieb aber in der eigentlichen Sache hart. Er trat bedingungslos für eine jüdische Präsenz auf dem Gebiet Israels im halachischen Sinne ein, aber nicht unbedingt immer im staatlichen Sinne. Bisher sieht es jedoch danach aus, als lehne die palästinensische Führung jüdische Bürger vollständig ab.

Eines macht das Beispiel von Gusch Eminum deutlich:

Auf dem Land im geographischen Sinne liegen zwei »Folien«, die eine, mit dem »heiligen« Land Israel, also Eretz Israel, im Sinne der Torah - für das auch bestimmte Mitzwot gelten, so wie das Schmittah-Jahr und die andere Folie ist der moderne Staat Israel.

Beide liegen auf dem gleichen Untergrund. Natürlich macht es das Leben in »Eretz Israel« leichter, wenn man im Staat Israel lebt und sich innerhalb einer jüdischen Gesellschaft bewegt und ein freies Leben gewährleistet wird.

Ein anderer Vertreter für einen »neuen Zionismus« religiöse Prägung ist Rabbiner Joseph Soloveitchik (1903-1993), der in den USA schlicht »The Rav« genannt wird. Ein Titel mit dem in Israel übrigens der erste aschkenasischen Oberrabbiner Abraham Jitzchak Kook (1865–1935) bezeichnet wird. Rabbiner Soloveitchik entstammte einer Familie, die traditionell dem Zionismus nicht aufgeschlossen, wenn nicht gar ablehnend, gegenüberstand. Dennoch kam Rabbiner Soloveitchik auf einer Reise nach Eretz Jisrael im Jahr 1935 nicht umhin, als Repräsentant der Agudat Jisrael, seine Kandidatur für das Amt des Oberrabbiners des Landes einzureichen. Im Jahr 1944 gehörte er dann dem Zentralkomitee der Religiösen Zionisten von Amerika an. Diese Richtungsänderung ist bemerkenswert, wenn man die antizionistische Tradition bedenkt, aus der er kommt.

Diese »Einsicht« hat Rabbiner Soloveitchik in einem Werk namens »Kol dodi dofek« niedergeschrieben und argumentiert. Mit dem biblischen »Lied der Lieder - Schir haSchirim«, welches in poetischer Sprache die Beziehung zwischen dem jüdischen Volk und G-tt beschreibt, schreibt er über die Errichtung des Staates Israel. »Kol dodi dofek« ist ein Zitat aus eben diesem Schir haSchirim (5,2) und bedeutet so viel wie »mein Geliebter klopft an«. Der Geliebte klopft an die Tür seiner Geliebten, aber diese schläft und kann sich nicht dazu entschließen, die Tür zu öffnen. »Ich habe mein Kleid ausgezogen, wie soll ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie sollte ich sie wieder schmutzig machen?« Dann aber wird der Geliebten klar, wer da klopft und steht auf. Tragischerweise hat sich der Geliebte schon abgewandt. Das kennt vielleicht der eine oder andere Leser aus dem eigenen Leben: Chance vorbei.

Dies sollte nicht noch einmal passieren und so beschreibt Rabbiner Soloveitchik die offensichtlichen Wunder, die mit der Gründung des Staates Israel verbunden waren. Sie seien Grund genug, die Zeichen der Zeit zu erkennen: Die Anerkennung Israels durch die Vereinten Nationen, der Sieg Israels auf dem Schlachtfeld, als mehrere arabische Nationen vereint gegen Israel antraten, verloren und Israel plötzlich größer war, als ursprünglich geplant.

Er sah Israel als Gegengewicht zur Assimilation, als Faktor bei der Ausbildung einer jüdischen Identität in der Diaspora und schließlich mache es der Staat Israel möglich, die Selbstverteidigung in jüdische Hände zu legen. Man sei Herr seines eigenen Schicksals. Zudem rette der Staat Israel, als Zufluchtsort für Juden, Leben. Wie viele Leben hätte er retten können, wenn es 1939 ein eigenes jüdisches Land gegeben hätte?

Erneut die Frage: Ist Israel nun also die Erfüllung eines religiösen »Traums«, oder eines politischen? Hoffentlich beides zugleich auf unterschiedlichen Ebenen. Aber die Trennung dieser Ebenen hilft uns vielleicht dabei, viele Fragen und Argumente besser einordnen zu können.

Eines haben wir aber auf jeden Fall gesehen: Gandhi ist nicht immer die beste Referenz, wenn es irgendwie um Frieden geht.