Ein unsichtbarer Rabbiner

ZEIT vom 18.03.2015
ZEIT vom 18.03.2015

Die Zeit vom 18.03.2015 brachte endlich einmal einen Beitrag aus einer kleinen Gemeinde. Das ist eine Abwechslung, denn Judentum passiert ja nicht nur in Berlin oder München.
Eine Dame aus Gelsenkirchen und ein Mädchen aus der gleichen Stadt sprechen, mutig und mit Foto, über ihre jüdische Identität und wie man damit im Alltag umgeht. Das Mädchen macht einen recht toughen Eindruck, sagt wo es in der Schule Probleme geben könnte und in welchem Ausmaß man zuhause jüdisch lebt. Beeindruckend. Die Dame die ebenfalls porträtiert wird, macht sich Sorgen um ihr Kind und denkt laut über dessen Zukunft nach. Beide Artikel sind eine gute Momentaufnahme aus einer kleinen Gemeinde. Das sind sehr persönliche Äußerungen und auch Entscheidungen. Schließlich muss jede und jeder für sich selbst entscheiden, wie er oder sie sein jüdisches Leben ausgestaltet.

Die beiden Artikel werden begleitet von einer Textbox mit der Überschrift »Mail des Rabbiners« (welcher Gemeinde wird nicht mitgeteilt), eher in einem persönlichen Ton gehalten, in dem eine Person um Verständnis darum bittet, nicht in der ZEIT erscheinen zu müssen. Er publiziere weniger als früher und trete nicht in der Öffentlichkeit auf. Seine Tochter hätte schon die Schule gewechselt und die Familie sei nicht besonders erpicht darauf, dass jemand über ihre Identität Bescheid weiß. Mit anderen Worten: Der Rabbiner würde lieber unsichtbar bleiben.
Das ist zu einem Teil eine private Entscheidung, zum anderen Teil eine öffentliche, denn in Deutschland sind Rabbiner ja weit mehr als nur halachische Ratgeber. Sie sind Aufbauhelfer und im gewissen Sinne auch Rollenvorbilder für die Gemeindemitglieder. Es ist heute Teil ihres Berufs, auch ein wenig öffentlicher Repräsentant zu sein. Wenn schon der Rabbiner nicht mehr als Jude in die Öffentlichkeit gehen möchte, dann ist das ein schlechtes Signal an die Gemeinde – vielleicht sogar ein sehr fatales. In der Öffentlichkeit wäre er unsichtbar und könnte für seine Gemeinde nicht Stimme erheben. Er müsste ein unsichtbares Leben führen, ein unauffälliges, vielleicht assimiliertes Leben, zumindest aber in Unfreiheit.
Damit ist viel gesagt über den aktuellen Zustand.

Von Chajm

Chajm Guski ist nicht nur Autor dieses Blogs und Bewohner des Ruhrgebiets, sondern auch Herausgeber von talmud.de und Organisator des Minchah-Schiurs im Ruhrgebiet. Einige seiner Artikel gibt es nicht nur im Internet, sondern beispielsweise auch in der Jüdischen Allgemeinen. Über die Kontaktseite kann man Chajm eine Nachricht senden. Man kann/soll Chajm auch bei twitter folgen: @chajmke. Chajms Buch »Badatz!« 44 Geschichten, 44 zu tiefe Einblicke in den jüdischen Alltag, gibt es im Buchhandel und bei amazon. Sein Buch »Tzipporim: Judentum und Social Media« behandelt den jüdischen Umgang mit den sozialen Medien. || Um per Mail über neue Beiträge informiert zu werden, bitte hier klicken

6 Kommentare

  1. Ich finde aber, das sagt viel mehr aus über den Zustand dieses Rabbiners!

    Vor mehreren Jahrzehnten schon wurde in München das jüdische Altersheim in Schutt und Asche gebrannt, es wurde ein jüdischer Verleger (o.ä.) in Franken ermordet, es wurden Leute gemobbt in der Schule, am Arbeitsplatz etc., weil sie jüdisch waren. Früher, also vor 20-30 Jahren, gingen Juden wohl eher nicht öffentlich sichtbar auf die Strasse und die wenigen Rabbiner, die es gab, waren im christlich-jüdischen Dialog tätig, also in einem Umfeld, das eher weniger darauf aus war, jemandem ins Gesicht zu boxen.

    Trotzdem haben sich nach und nach mehr und mehr Rabbiner auch öffentlich gezeigt und sie tun es bis heute. In Berlin ist Rabbiner Alter scheinbar (zumindest wurde mir das erzählt) ziemlich sichtbar, obwohl oder gerade weil man ihn vor einigen Jahren zusammengeschlagen hat auf offener Strasse (weil er als Jude durch seine Kippa zu erkennen war). Er trägt wohl heute keine Kippa mehr “draussen”, aber er lässt sich nicht den Mund verbieten.

    Ich weiss nicht, in wie weit dieser Rabbiner, von dem Du sprichst, in Kontakt mit anderen ist, oder ob er recht isoliert ist – d.h. einen gewissen Austausch und auch Stärkung durch andere – Juden wie Nichtjuden hat, man ihn kennt und für ihn im Ernstfall einstehen würde.
    Ich weiss auch nicht, was er ansonsten für eine Persönlichkeit ist – leicht einschüchtbar, ängstlich, unerfahren… keine Ahnung.
    Von einer Person Allgemeinplätze abzuleiten finde ich auf jeden Fall nicht richtig.
    Jeder ist anders, einer zieht sich zurück, einer steht erst recht auf und zeigt sich. Wieder andere stehen gerne auf der Bühne und lassen sich das auch nicht nehmen, wenn sie einen auf die Backe bekommen haben. Dass Kinder wegen Antisemitismus die Schule gewechselt haben ist auch nichts neues, das hat es IMMER gegeben.

    Damit will ich nicht beschönigen, dass es Einzelne und Gruppen gibt, die Juden gegenüber durchaus aggressiver auftreten als zuvor und die Gesellschaft im Allgemeinen noch überhaupt keinen Weg gefunden hat, damit umzugehen. Deswegen aber zu verstummen, vor allem als Rabbiner, finde ich den falschen Weg.

    Zum letzten Thema sehr zu empfehlen ist das Buch von Carlo Strenger “Zivilisierte Verachtung”!

  2. Shani,
    Deine Beurteilung finde ich naiv und borniert. Ungerecht. Was soll denn die Haltung dieses “unsichtbaren Rabbiners” genau aussagen? 
    Wie Du es verstehst, kommt der Rabbi nicht gut weg. Wenn Du es auch fragend in der Schwebe läßt, so vermisse ich Fragen, die andererseits dem Handeln des Rabbis mit Verständnis begegnen.
    Nur gerade dem kann letztlich eine Shani-Meinung nachrangig erscheinen. 
    Verzeihung meine vielleicht unhöflich erscheinende Einleitung.

    Die Gefahr als erkennbarer Jude zB in der Nähe der Schul aggressiv (bis lebensbedrohlich) angegangen zu werden ist reales Szenario  im heutigen Deutschland. Die Gefahr von Geiselnahme (zB der Kinder) ist reale Gefahr. Mobbing zB ist meines Erachtens als Vorstufe solchen Szenarios zu betrachten.

    Ein Vater der den Schutz seiner Familie/Kinder über eigene Bedürfnisse stellt hat mehr Mumm als ein Ignorant, der den Tiger im Urwald ganz einfach nicht einplant. Sei’s aus dem harmonischen Gefühl heraus, daß schließlich alles (eigentlich) gut sei, man selbst ja auch sehr nett…
    Nur zum Beispiel eine mögliche Betrachtungsweise mancher Wohlfühl-Theoretiker.

    Es ist kein günstiges Signal, da stimme ich Chajm zu. 
    Nur wer ist Shani, wer Chajm, wer ich, daß wir einem Vater den Schutz vor einer realen Bedrohung auf dessen Familie verbitten, damit die JG wo auch immer “mutiger” oder wie auch immer präsenter erscheinen möge. 
    Vielleicht wären für solches Ansinnen auch imposantere Kirchengebäude nötig mit eindrücklichem Gebimmel? 
    Vielleicht aber erklärt sich auch ein Muezzin bereit der JG begleitend Geltung zu predigen? 
    Per aufgedrehter Lautsprecher-Anlage, selbstverfreilich. Vielleicht bietet die Polizei provisorisch die Lautsprech-Anlage eines Einsatzwagens, bis das “jüdische Minarett” steht?

    Der Rabbi macht ja doch seine Arbeit, die Öffentlichkeitsarbeit machen doch schon lange andere; zB ‘Die Zeit’. 
    Als ob die Meinung eines “kleinen Juden” irgendeinen Zeit-Leser ernsthaft interessieren würde!

    Soweit einen Groschen von meiner Seiten. 
    Viel Erfolg bei der Jagd auf Chametz allerseits!

    A.mOr.

    ps/
    Chajm, 
    mein “…zB ‘die Zeit’…”, bedeutet meines Erachtens nicht, daß der Rabbi lieber unsichtbar wäre. Vielmehr läßt sich eine Sache der Abwägung ersinnen. 
    Was bringt es einem Juden im Dienste der Jüdischen Gemeinde, einem Rabbi, ausgerechnet über ‘Die Zeit’ öffentlichkeitswirksam zu werden? 
    So ein Gedanke.

  3. … Mit anderen Worten: Der Rabbiner würde lieber unsichtbar bleiben. Das ist zu einem Teil eine private Entscheidung, zum anderen Teil eine öffentliche …

    Eigentlich schade, diese Scheu vor dem Outing, aber andere Juden – hier z.B. Trevor Noah – machen das, mit “offensiver Öffentlichkeitsarbeit” locker wieder wett. Hier eine kleine Kostprobe:

    “Almost bumped a Jewish kid crossing the road. He didn’t look b4 crossing but I still would have felt so bad in my German car!”

    “South Africans know how to recycle like Israel knows how to be peaceful.”

    “Messi gets the ball and the real players try foul him, but Messi doesn’t go down easy, just like jewish chicks”

    Na, jetzt mal ehrlich, wie findet Ihr Noah’s Sprüche? Bessere klopft selbst mein Rabbi nicht! Ich habe mich jedenfalls fast totgelacht!

    Shalom,

    Miles

  4. Schani,
    wenn sich jemand bedroht fühlt, dann fühlt er sich bedroht und handelt entsprechend seiner Vefrassung, egal ob es ein Rabbiner oder jemand anderer ist. Wenn jemand über diese Dinge erhaben ist, es nicht nachvollziehen kann, unverständnis hat, darf seine Irritation anmelden, jedoch keine Bewertung der Situation abgeben. Natürlich leben WIR mit der Bedruhung. Und ein Polizeiwagen vor der Synagoge ist nur Augenwischerei, das beruhigt das Gewissen, das ist ein “Zeichen” daß womöglich etwas getan wird. Solange es notwendig ist, daß Juden unter Polizeischutz beten ( falls man hier über Schutz sprechen kann), ist die Bedrohung da. Das ist nicht wegzudiskutieren.
    Und es ist nicht jeder auserkoren, ein Held zu sein.

  5. Du hast Recht, jeder hat seine “Obergrenze”. Vielleicht erwarte ich oder wünsche mir, dass die Obergrenze eines Rabbiners etwas höher gelagert ist… schliesslich ist er “Berufsjude”.
    Die Bedrohung gibt es übrigens, wie schon oben beschrieben, schon eine gefühlte Ewigkeit. Polizei gibt es leider nämlich nicht erst seit letztem Jahr vor Synagogen, damit sind wir aufgewachsen.

    1. Ich dachte “Berufsjuden” wären nur Funktionäre; z.B. beim Zentralrat der Juden in D oder in ähnlichen Instituationen? Für einen simplen Rabbi ist dieser Titel wahrscheinlich zu viel der Ehre!? 🙂

      Shalom

      Miles

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