Buchcover Amos Oz: Judas

Buchcover Amos Oz: Judas

Es ist Winter in Jerusalem.
Ein nasser, kalter, unfreundlicher Winter zwischen den Jahren 1959-1960. Jerusalem ist von drei Seiten umschlossen von Feindesland.
Hin und wieder fallen Schüsse.
Schmuel Asch, ein bärtiger, sozialistischer, zionistischer, asthmatischer und etwas nachlässiger Student wird direkt zu Beginn des Buches seiner Umgebung entrissen. Einige Sätze reichen, um dem jungen Mann auf ein leeres Spielbrett zu stellen.
Seine Freundin heiratet einen anderen, seine Eltern verlieren ihr Geschäft und können so das Studium von Schmuel nicht mehr bezahlen. Seine Arbeit zum Thema »Jesus in der Perspektive der Juden« kann er nicht mehr fertigstellen.
Die Geschichte führt ihn aber dann in das »Haus Abrabanel« Bejt Abrabanel.

Dort hat er die Aufgabe, sich um den alten Gerschom Wald zu kümmern und ihn an langen Abenden mit Gesprächen zu unterhalten. Dieser lebt mit einer Frau namens Atalja im Haus Abrabanel. Wer Atalja eigentlich ist und warum sie im Haus Abrabanel lebt, wird erst im Verlauf der Geschichte deutlich. Die Geschichte des Hauses Abarbanel und seiner Bewohner wird nämlich eine Erzählebene des Buches sein. Langsam entfalten sich die Schicksale der Bewohner vor den Lesern. Diejenigen der lebenden Bewohner, wie Atalja und Gerschom Baum, und diejenigen der toten Bewohner.
Auf der »Haus Abrabanel Ebene« lernt Schmuel Asch durch die Erzählungen von Gerschom Wald den früheren Besitzer des Hauses Schealtiel Abrabanel kennen. Einem Zionisten, der allerdings als einziger in der Jewish Agency gegen die Gründung eines jüdischen Staates war. Schealtiel Abrabanel wollte gemeinsam mit den arabischen Bewohnern in Palästina leben und eine partnerschaftliche Beziehung anstreben. Am Ende seines Lebens galt er als Verräter und vereinsamte. Wir lernen über Gerschom Wald auch seinen Sohn kennen, der für den neu gegründeten Staat in den Krieg zog.

Auf einer anderen Ebene wird die Geschichte von Jesus und Judas erzählt. In seinen Gesprächen mit Baum entwickelt Asch seine ganz eigene Theorie von Jesus und Judas – die nicht so ganz seine eigene ist – aber innerhalb des Buches natürlich schon.
Einem Jesus, von dem Schmuel Asch begeistert ist und den er verehrt, obwohl er kein Christ ist.
Schmuel Asch ist überzeugt, dass sich Juden zu wenig mit der Botschaft Jesu beschäftigt hätten, was vor allem an der Verfolgungsgeschichte lag und die Welt Judas nicht verstanden habe. Tatsächlich sei Judas der »der erste und einzige Christ« gewesen. Der einzige unter den Jüngern Jesu, der dessen Botschaft verstanden habe und deshalb die Kreuzigung mit seinem Freund Jesus herbeiführen wollte. Alle sollten sehen, was passieren würde, wenn man versucht, Jesus am Kreuz zu töten. Nach dessen tatsächlichem Kreuzestod hätte Judas sich vor Gram umgebracht. Diese Erzählebene verbleibt zunächst im Gespräch zwischen Schmuel und Wald oder Atalja, wandert später jedoch etwas in Vordergrund und wird dem Leser ohne Einbettung angeboten. Kurz verschwimmen die Ebenen. Auf dieser Erzählebene wird der Tod von Jesus sehr eindrücklich schildert – wobei natürlich nicht klar ist, ob wir es mit Schmuel Aschs Schilderung zu tun haben, oder mit der von Oz.

Oberflächlich betrachtet, ist es kein umfangreiches Buch und die »Geschichte« wird nicht von den Ereignissen getrieben, sondern einigen kleinen Einblicken in die Biographien der Romanfiguren. Wenn man das Buch jedoch wach liest, dann ist es das intertextuellste Buch, welches Amos Oz jemals geschrieben hat. Das Buch berstet vor Anspielungen, Zitaten und Anlehnungen aus vielen Jahrhunderten der hebräischen Dichtung und Überlieferung. Zuweilen ganz offen, zuweilen fein versteckt im Text. Die Arbeit, welche die Übersetzerin Mirjam Pressler geleistet hat, kann man kaum ermessen.

Die Intertextualität ist der Schlüssel zum Buch von Amos Oz. Selbst der Titel, im Deutschen »Judas«, im Hebräischen aber »הבשורה של יהודה - Das Evangelium nach Judas« ist eine Anspielung auf die gleichnamige Schrift, die 2006 übersetzt vorlag. Gleich zu Beginn des Buches, wenn wir lernen, in welcher neuen Situation Schmuel steckt, begegnen wir Dr. Schiwago von Boris Pasternak und »Die Tage des Ziklag« von Yzhar. Bereits hier werden die Weichen für ein zentrales Thema gestellt: Pasternaks Buch geht recht roh mit den Mythen der bolschewistischen Revolution um, der (israelische) Bestseller »Die Tage des Ziklag« schildert die Erlebnisse einer Gruppe von Soldaten im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Allerdings ist auch dies kein Heldenepos, sondern schildert recht schonungslos auch das Innenleben der Soldaten (warum gibt es von dem Buch eigentlich keine Übersetzung?).
Wir treffen also direkt zu Beginn von »Judas« auf zwei Texte, die kein idealisiertes Bild zeichnen wollen, sondern das Innenleben von Menschen. Im Prinzip Dekonstruktionen von Mythen - sehr populäre.
Interessant sind zahllose Zitate, die nicht als solche markiert sind und die einem Leser mit einer, sagen wir jüdischen Leseerfahrung, sich besser erschließen. Wenn Gerschom Wald sagt »von Nathan bis Nathan gab es keinen wie Nathan«, dann weiß ein Leser, der sich in den traditionellen Texte auskennt, dass hier ein populäres Sprichwort über Mosche Rabbenu und Maimonides Verwendung findet. Oder indirekte. Schmuel ist einsam und elend, jedenfalls teilweise. Natürlich kann man an ein Zitat aus Tehillim (den Psalmen) denken (25,16): »Wende dich zu mir und sei mir gnädig, denn einsam und elend bin ich.« Das umfangreiche Spiel mit den Zitaten stößt natürlich an sprachliche Grenzen. Wenn Schmuel und Atalja in das Tal Ben Hinnom hinabsteigen (Tal Gehenna) und er zu ihr sagt »Jetzt sind wir in der Hölle«, dann wissen vielleicht nur die Leser mit angesprochener Leseerfahrung, dass die Bezeichnung dieses Tals traditionell für die Hölle steht.
Abrabanel ist übrigens ebenfalls so ein Schlüsselbegriff. Natürlich kann es hier ein sefardischer Familienname sein, aber Abrabanel steht im Schrifttum auch für Rabbiner Jitzchak Abrabanel (1437–1508). Man denkt an seinen Sohn Schmuel (!) den man zwischenzeitlich auch als Verräter bezeichnen könnte. Immerhin ließ er sich zwischendurch taufen und kehrte dann wieder zum Judentum zurück. Oder man denkt bei Schmuel Asch an Schalom Asch, den jiddischen Schriftsteller, der sich - überraschend - auch mit Figuren des Christentums befasst hat und dafür kritisiert wurde.
Mancher wird das als sehr massiven Wink mit dem Zaunpfahl sehen, manchem wird dieses Spiel vielleicht nicht auffallen. Ich sehe darin ein Spiel von Oz mit der Intertextualität religiöser Texte. Diese Texte man auch durchlesen, aber mehr schöpft man aus ihnen, wenn man die Zitate oder Anspielungen in ihnen erkennt und interpretieren kann.
Der Talmud wäre DER intertextuelle Text par excellence. Bei einem Text unter der Überschrift »Evangelium nach Judas« erscheint, ist es offensichtlich, dass wir es mit einem religiösen Text zu tun haben. Aber es ist ja auch ein Roman.
Am Ende ist Schmuel jemand, der aus dem Bejt Abrabanel kommt. Ähnlich wie die Schüler des Bejt Hillel oder des Bejt Schammaj…

Ist es aber ein Roman über die Liebe, wie der Klappentext ihn ankündigt?

Weniger. Es ist vielmehr eine Art Thriller über die Auseinandersetzung von Ideologien.
Von der Utopie, einen jüdischen Staat zu gründen und was es bedeutet, diese Utopie wahr werden zu lassen.
Wie viel will man, kann man, darf man opfern, um dieses Ziel zu erreichen? Wer legt das fest?
Und es geht natürlich um das Thema »Verrat«. Wer definiert wen als Verräter?

Judas, als Verräter, derjenige der die Konventionen der Gesellschaft verlässt und sie voranbringen will?
Derjenige, der dann stellvertretend für alle Juden stand? Die »Verräter«, die Jesus verraten haben sollen. Ohne diesen Verrat es aber heute keine Kirche gäbe?

Schealtiel Abrabanel als Verräter der zionistischen Idee - oder als einziger, der an der eigentlichen Idee festhielt?

Man mag es nicht schreiben, denn ein Buch im Hinblick auf den Autor zu interpretieren, widerstrebt mir stets ein wenig:
Geht es vielleicht auch um Amos Oz? Amos Oz der die zionistische Idee jederzeit verteidigte, aber nicht immer mit den Ideen übereinstimmt, die von der Politik formuliert werden. Das wäre ein schlechtes Zeichen für die Stimmung in einer Demokratie, wenn einer der angesehensten Schriftsteller die Not fühlt, sich derart verteidigen zu müssen.
Muss man das so lesen? Nicht unbedingt.
Amos Oz erzählte einmal, er könnte auch eine Geschichte über das Taschengeld eines kleinen Mädchens schreiben und man würde darin einen Kommentar zur Wirtschaftskrise erkennen. Ist es hier so?

Ein Buch, auf dessen Rezensionen außerhalb der jüdischen Presse ich gespannt bin.
Was liest wer aus diesem intertextuellen Feuerwerk?
Unterm Strich ist es ein Buch, dem man seine Meisterschaft nicht sofort anmerkt. Sie reift erst im Leser. Eine ungewöhnliche Lektüre, aber keine schlechte.


Amoz Oz »Judas«
Erscheint heute, am 07.03.2015
Suhrkampverlag
335 Seiten
ISBN: 978-3-518-42479-7

Eine Leseprobe gibt es hier.