Das ist schon kein Trend mehr, dass ist schon der Normalzustand geworden: Undifferenziertheit. Immer mehr Menschen sind nicht mehr in der Lage, einer Situation oder einer Person mehr als eine Eigenschaft zuzuordnen. Offensichtliche Folge dieses Phänomens ist das öffentliche Hypen und Feiern von Menschen, die vielleicht kurz danach mit Häme und Spott überzogen werden. Von anderen wird die gleiche Person dann aber genau umgekehrt betrachtet: Ausschließlich mit Häme und Spott. Die entsprechende Person kann nichts gutes bewirkt haben.

Drei Beispiele, zunächst zwei ältere Dauerbrenner, dann ein sehr aktuelles.

  • Edward Snowden Der Mann hat es geschafft. Er wird als Held verklärt und verehrt. Er wird mit Preisen überhäuft; Organisationen überschlagen sich mit Forderungen nach Asyl in diesem oder jenem Staat. Sogar für den Friedensnobelpreis wurde er vorgeschlagen. Wichtige Informationen hat er offengelegt und publik gemacht. Darüber, dass er mit seinen Erkenntnissen nach Russland geflohen ist und die Veröffentlichung der Abhörtaktiken einigen terroristischen Gruppen einen Vorteil verschafft hat, wird nicht so gerne gesprochen. Obwohl dies auch zu seiner Person gehört. Aber der Mann ist ausschließlich Heiliger. Beide Aspekte seines Handelns gemeinsam zu betrachten scheint nicht möglich zu sein. Das eine wahrnehmen und das andere würdigen?
  • Nadeschda Tolokonnikova - ihre Gruppe Pussy Riot wird von den Massen verehrt. Die Gruppe ist gegen den bösen russischen Staat aufgestanden und wurde von diesem bestraft. Die Gleichung ist einfach: Deshalb sind die Damen ebenfalls Heilige. Von den Eskapaden der hochschwangeren Tolokonnikova im Moskauer Museum für Biologie, wo man ein, naja, sagen wir, Video für Erwachsene aufnahm, ist nicht so viel zu lesen. Ihre Künstlergruppe Война veranstaltete mehrere solcher Veranstaltungen mit Bezügen zu diversen Körperöffnungen. Dass man Tolokonnikova ihre Tochter schon vor ihrer Inhaftierung abnahm, weil sie nicht in der Lage war, sich um sie zu kümmern, interessiert niemanden. Der Aspekt der absoluten Verehrung überdeckt alles. Es scheint unmöglich zu sein, die Vorgänge in der Christ-Erlöser-Kirche mit allen Aspekten zu betrachten. Statt dessen überreicht man ihr den Hannah-Arendt-Preis und die Einslive-Krone. Das soll man ihr nicht absprechen, aber man kann sich doch mit allen Aspekten der Helden beschäftigen?
  • Tuğçe Albayrak der jüngste Fall. Die junge Frau wird niedergeschlagen und erliegt ihren Verletzungen. Vorausgegangen war ihr Einschreiten bei einem Streit. Die Anteilnahme war riesig und die Betroffenheit landesweit. Hier verlor jemand durch Zivilcourage sein Leben. Die öffentliche Anteilnahme wurde natürlich von offizieller Seite erkannt und schnell auch für eigene Zwecke genutzt. Aber die junge Dame hatte auch eine private Seite und diese wird derzeit Ziel von Kritikern die diese Facette der Person Tuğçe gerne in den Vordergrund spielen würden. Fotos ihres Facebook-Profils machten die Runde. Antiisraelische Postings waren dort zu lesen und eine stilisierte Karte Palästinas – natürlich auf der Fläche Israels. Auch das eine Seite der Person, die verehrt wird. Leider Mainstream, wie wir im Sommer 2014 erfahren mussten. Eine antisemitische Folklore gegen die etwas getan werden muss. Das Hervorkehren dieser Facette aber hat schon bedenkliche Formen angenommen. So bloggt jemand: »Ihr früher Tod, noch bevor sie Lehrerin geworden ist, wird es hoffentlich erschweren, dass nicht nur unter Muslimen vorkommende xenophobe Ansichten in die sich entwickelnden Gehirne Jugendlicher eingehen.« (von hier). Das ist genau nicht die Ebene, auf der solche Betrachtungen stattfinden sollten und leider nicht das einzige Beispiel.

Es besteht offensichtlich eine Art Sehnsucht nach Heiligen, vielleicht auch, weil Hagiographien sich besser verkaufen lassen oder weil man immer mehr nach einfachen Rastern sucht?

Amos Oz wird in der Jüdischen Allgemeinen zitiert:

Aber ich möchte sagen, dass viele Menschen im Westen jeden internationalen Konflikt wie einen Hollywoodfilm verstehen, wo es um Gut gegen Böse geht. Oft haben sie das Bedürfnis, eine Petition für die Guten zu unterschreiben, eine Demonstration gegen die Bösen zu organisieren und mit einem guten Gefühl zu Bett zu gehen. von hier

Das lässt sich offensichtlich nicht nur in Bezug auf einen bestimmten Konflikt sagen, sondern eigentlich in Bezug auf die meisten Themen der letzten Zeit.