[…]denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. Rainer Maria Rilke, Archaïscher Torso Apollos

Teschuwah also die Umkehr verlangt eine (zuweilen schmerzhafte) Konfrontation mit sich selbst. Das dürfte der schwierigste Teil sein: Gewohnheiten abzulegen und sich neue (im Idealfall bessere) Verhaltensweisen anzueignen. Es ist schwierig, sich selber kritisch zu hinterfragen. Gut beraten sind diejenigen, die Korrektive haben, also Menschen, die einem die Wahrheit sagen und es dabei nicht böse meinen. Rabbiner Josef Soloveitchik (1903–1993) schrieb, die Teschuwa sei ein aktiver Akt der Rückkehr zu G’tt und seinen Mizwot. Der Einzelne erschafft in diesem Prozess ein vollkommen neues »Ich«. Das ist echte Arbeit und nicht nur so eine Formel, die man vor Jom Kippur bei facebook postet: »Hallo. Falls ich jemanden verletzt haben sollte, Sorry.« Per Mail kommt das auch nicht so gut an. Aber es gibt auch ein großes Ärgernis. Da gibt es nämlich auch diejenigen, die sagen »ich habe alles richtig gemacht«. Das ist kein neues Phänomen, das ist schon im Tanach beschrieben: »rein bin ich, ohne Sünde, lauter, frei von Fehl.« (Ijow 33,9) Hochmut heißt das Wort dafür, das ist ein wenig aus der Mode gekommen – das Wort, die Tatsache nicht. Wie man damit umgehen soll, habe ich noch nicht gelernt. Das ist eine der Erkenntnisse von Jom Kippur. Eine weitere Erkenntnis ist die Neuinterpretation eines Midraschs (Ejchah Rabbah):

Schmuel ben Nachman sagt: »Gebet ist wie eine Mikwe und Tschuwah ist wie das Meer. So, wie die Mikwe einige Zeit geöffnet ist und einige Zeit geschlossen, ist es auch bei den Toren für die Gebete, manchmal sind sie geöffnet und manchmal geschlossen. Auf der anderen Seite ist das Meer immer offen und so sind es auch die Tore der Teschuwah.«

Das ist natürlich (auch) metaphysisch gemeint, aber wohl auch irgendwie ganz konkret, denn so sieht es dann wohl auch in der Synagoge aus. Manchmal fällt es leicht sich zu konzentrieren und manchmal fällt es schwer, besonders wenn das Umfeld nicht sonderlich förderlich ist. Etwa, weil niemand anderes mitbetet, oder die Menschen mit anderen Dingen beschäftigt sind, oder ganz simpel nur desinteressiert. In diesem Jahr waren die Tore in dieser Hinsicht geöffnet. Das (oder ein) Geheimnis lag darin, dass die Beter sich verantwortlich fühlten für das, was in der Synagoge passierte. Sie waren tatsächlich aktiv und keine passiven Beobachter und deshalb vielleicht gelangweilt. Der Weg dahin begann vielleicht mit der Erkenntnis, dass man etwas unternehmen müsse. Mit kritischer Selbstbewertung… womit wir wieder am Beginn wären.