Dr. Hugo Hamid Marcus (Mitte) Verwendung des Bildes mit freundlicher Genehmigung des Lahore Ahmadiyya Islamic Movement  Berlin Mosque and  Mission Dr. Hugo Hamid Marcus (Mitte)
Verwendung des Bildes mit freundlicher Genehmigung des Lahore Ahmadiyya Islamic Movement
Berlin Mosque and Mission

In seinem Buch »Children of Abraham: An Introduction to Islam for Jews« erwähnt der Autor Khalid Durán einen Berliner namens Hamid Marcus, der als Jude zum Islam konvertierte und Mitautor einer Koranübersetzung ins Deutsche war. Er schreibt dann kurz und knapp, Marcus sei im KZ ermordet worden. Dahinter steckt offensichtlich eine tragische Geschichte. Tatsächlich war die Lebensgeschichte von Dr. Hugo Hamid Marcus eine andere. Eine sehr spannende und vielleicht der Ausdruck einer Zeit im Umbruch, die durch den Nationalsozialismus ein Ende fand. Um es vorweg zu nehmen. Dr. Hugo Hamid Marcus starb 1966 in der Schweiz. Vollkommen vereinsamt.

Ein jüdischer Mann, der zum Islam konvertierte?

Zumindest war er nicht der einzige in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Nicht wenige Juden beschäftigten sich mit dem Islam sehr intensiv und dass es auch Konversionen gab, scheint demzufolge folgerichtig. Bevor wir also Dr. Marcus im Detail betrachten, hole ich etwas weiter aus.

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts begannen viele jüdische Gemeinden ihre neuen Synagogen im maurischen Stil zu bauen, der eher ein maurisch-islamischer Stil war. Man bediente sich nicht nur in architektonischen Zitaten, sondern baute vollständig in diesem Stil. Der Architekt Alfred Rosengarten kommentierte das in einem Buch über architektonische Stile (1869):

[…]wobei man dem Äußeren gern türkische Kuppel- und andere Formen beimengt, so dass nur der Halbmond auf der Spitze fehlt, um das Ganze für ein nicht dem jüdischen, sondern dem mahomedanischen Cultus gewidmetes Gebäude gelten zu lassen. Aus: Die architektonischen Stylarten: eine kurze, allgemeinfassliche Darstellung der charakteristischen Verschiedenheiten der architektonischen Stylarten, Seite 432

Die Jerusalem-Synagoge in Prag beispielsweise:

Jubilee Synagogue 196

Jeruzalémská synagoga, Prag I, Tbachner [GFDL, CC-BY-SA-3.0 oder FAL], via Wikimedia Commons

In vielen Texten über Synagogenbauten wird – wohl wegen der Bezeichnung des Stils – behauptet, man griff zu ihm, um an eine (vermeintlich) goldene Zeit des Judentums zu erinnern; also unter der Herrschaft des Islam in Spanien. Das war nicht der Fall, der Baustil war Ausdruck einer anderen Bewegung, die eine eigene Identität zum Ausdruck bringen wollte. Man drückte aus, dass man sich irgendwie im Nahen Osten verortete, einem Ort, an dessen Tradition man anknüpfen konnte. Es wurde nicht mehr den Baustil der Umgebung kopiert oder versucht, sich einzupassen - vielleicht möglich geräuschlos – sondern entwickelte eine eigene Idee davon, welche Identität man annehmen wollte. Und so kostümierte man sich in einem islamischen Stil, denn es war keine reine Übernahme arabisch-islamischer Formen. Es war ja vielmehr eine Übernahme dessen, was man für arabisch-islamische Formen hielt. Aber die Architektur war nur der äußere Ausdruck einer Haltung und der Suche nach Orientierung.

Das Wochenblatt »Der Orient« von Dr. Julius Fürst Das Wochenblatt »Der Orient« von Dr. Julius FürstDer »Orient« war nun nämlich verstärkt der Ort, zu dem man sich nicht nur im Gebet wandte. Es war kein Zufall, dass Professor Julius Fürst eine Wochenschrift zum Judentum herausgab, die »Der Orient« hieß. Mit dem Rückgang des traditionellen Judentums kam offensichtlich auch die Hinwendung zu einer eigenen Kultur. Man sah sich in der Rolle der Vermittler zwischen dem Orient und der westlichen Welt, selber aber eher zum »Orient« gehörend. So schreibt Hans Kohn im »Orient«:

Wir tragen heute in uns das Bewußtsein, in die große Kultureinheit des Orients hineinzuragen. […] Man spricht oft davon, daß Judäa nicht nur geographisch in der Mitte zwischen Europa und Asien liege: wenn die Juden Europa, das sie voll in sich aufgenommen haben, überwinden, kann das Heil noch einmal von den Juden ausgehen. Hans Kohn, 1913, Der Geist des Orients

[…] Nur an einigen Beispielen wird betrachtet werden, welcher Art innere Umformung sich an dem Orientalen, dem Juden, vollziehen mußte, als er in die Sphäre des demokratischen Geistes eintrat, und diese in ihn. Arnold Zweig, Die Demokratie und die Seele des Juden, 1913

Auch in den »Jüdischen Monatsheften«– an deren Herausgabe Schlomoh Breuer beteiligt war, der Schwiegersohn von Samson Raphael Hirsch – findet man einen Ausdruck für die Hinwendung (Ausgabe 12, 1915):

Seit Urzeiten her zieht uns die religiöse Sehnsucht nach dem Osten. Nach dem Osten ist unser Blick im Gebete gewandt. Ostwärts betten wir unsere Leichen in der Muttererde Schoss. Auf Erdschollen aus dem Osten ruht in den Särgen unserer müden Erdenwaller Haupt. Kein Wunder, wenn die Nachkommen Abrahams, die noch heute, wo immer sie weilen, nach dem Lande der aufgehenden Sonne, in Abrahams Geburtsland, sich hingezogen fühlen, voll tiefer Ergriffenheit zuschauen, wie die gewaltigste Militärmacht Europas den halb verschmachteten Ismael-Staat zu neuem Leben erweckt, als ob das an Hagar gerichtete Wort: »Steh auf, nimm auf den Knaben und fasse ihn mit deiner Hand, denn zu einem grossen Volke werde ich ihn machen« (1. B.M. 21,18) an sie gerichtet wäre. Was ist uns Ismael, was ist uns die Welt des Islam? Die muhamedanische Glaubenslehre, Sitte und Recht des Muselmanns, die muhammedanische Wissenschaft und schöne Literatur, sie enthalten alle mancherlei Goldkörner, die uns wie dem jüdischen Erbgut entlehnt und darum recht vertraut und verwandt anmuten. Wie schön ist die berühmte Koranstelle, wo sich Muhammed in das Gemüt Abrahams versenkt: »Da, als die Nacht ihn bedeckte, sah er einen Stern; sagte: »Das ist mein Herr!« Als er aber unterging, sagte er: »Fürwahr, wenn mich mein Herr nicht rechtleitet, werde ich zu den Leuten, die in die Irre gehen gehören.« Als er nun den Sonnenball glänzend aufgehen sah, sagte er: »Das ist mein Herr, der ist gar gross!« Als aber die Sonne unterging, sprach er: »O mein Volk, ich habe nicht zu tun mit eurer Vielgötterei. Siehe, ich richte mein Antlitz rechtgläubig auf den, der Himmel und Erde geschaffen und gehöre nicht zu denen, die ihm etwas beigesellen.« In dieser Nachempfindung des Erwachens Abrahams zum Bewusstsein des einen G-ttes erscheint echte Poesie mit einer im Grunde doch recht phantastischen Verzierung des jüdischen G-ttgefühls verbunden. Wer bei diesen Sätzen an die schmucklose Art denkt, wie in unserer heiligen Schrift die Erwählung und Auferstehung Abrahams aus der Tiefe seiner polytheistischen Vorzeit gezeichnet wird, mag sich von dieser Koranstelle wie von einem muhammedanischen Midrasch zur jüdischen Bibel angeweht fühlen, er wird aber zugleich sagen, dass hier latent dieselbe Phantastik vorwaltet, die schliesslich zu dem Bekenntnis führte, das in neun Meter langen goldenen Buchstaben auf der Kuppel der gewaltigsten Moschee Konstantinoples, der Aja Sofia, prangt: »Allah ist das Licht des Himmels und der Erde«

Diese Zeit kennt zahlreiche jüdische Orientalisten: Ignaz Goldziher, Hermann Vámbéry, Moses Schorr, aber auch Träumer wie Lew Nussimbaum (fantastische und tragische Lebensgeschichte). Lazarus Goldschmidt, der die einzige vollständige deutsche Übersetzung des Talmud schuf, übersetzte auch den Koran. Oder Eugen Hoeflich (Mosche Ja’akov Ben-Gavriel). Er sah in einem Bund aller semitischen Völker die Zukunft und setzte sich vehement für eine Zusammenarbeit von Juden und Arabern ein: »Am 3. März war ich in Palästina gelandet, am 8 März hörte ich auf Eugen Hoeflich zu sein und bin seit diesem Tag Moscheh Jaakub ben Gawriel. Ich will auch innerlich ein neuer Mensch werden. Inschallah!« (Hoeflich, Tagebücher 1915 bis 1927, 1999, 244; Eintragung vom 24.3. 1927). Vergessen wir auch nicht Martin Bubers Rede »Der Geist des Judentums und der Orient« (1912) in der er darlegt, dass Juden auch Orientalen seien und dies der Schlüssel zu einer Wiederbelebung des Judentums sei. Diese Zeit kennt auch jüdische Konvertiten wie Leopold Weiss (Muhammad Asad) und eben auch Dr. Hugo Hamid Marcus. Das scheint in die Atmosphäre dieser Zeit zu passen.

1880 in Posen geboren, studierte er in Berlin und fand dort wohl den Weg in die muslimische Gemeinde, die später die Wilmersdorfer Moschee baute. Dort war er nicht der einzige Beter oder Besucher aus einer jüdischen Familie. In einem Bericht der Gestapo wird die dortige »Deutsch-Muslimische Gesellschaft« als judenfreundlich und reaktionär beschrieben.

Moschee Wilmersdorf Gebet in der Wilmersdorfer Moschee (1931)
Bundesarchiv, Bild 102-11243 / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons

Als 1930 die Islamische Gemeinde Berlin e.V. gegründet wurde, war Dr. Marcus ihr Vorsitzender. 1932 trat er dann tatsächlich zum Islam über, aber erst 1936 trat er aus der Jüdischen Gemeinde aus. In der Wilmersdorfer Gemeinde entfaltete er eine bemerkenswerte Produktivität und schrieb zahlreiche Artikel für die »Moslemische Revue«. Ab 1924 findet man seine Beiträge dort. 1935 trat er vom Vorstand zurück. Man kann annehmen, dass sein er seine Gemeinde schützen wollte und als geborener Jude von den Nazis unter spezieller Beobachtung stand und mit ihm seine Gemeinde. Tatsächlich wurde er 1938 dann auch in das Konzentrationslager Oranienburg gebracht, wurde aber 1939 entlassen und ging ins Schweizer Exil und ließ sich in Basel nieder. Ob es Fürsprecher für ihn aus der Gemeinde gab, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden. Aber allein die Tatsache, dass er nach dem Krieg keinen Kontakt mehr zu seiner Gemeinde aufnahm, spricht Bände. Die dortigen deutschen Konvertiten kann man im Allgemeinen nicht einer subversiven Gegnerschaft zum Regime zurechnen.

1939, also in dem Jahr, in dem er ins Exil ging, erschien (s)eine Übersetzung des Korans in die deutsche Sprache, mit Kommentar und Originaltext (hhier downloadbar). Maßgeblich Beteiligter war Dr. Marcus, der nirgendwo genannt wird. Das Jahr des Herausgabe dürfte ein Hinweis darauf sein, warum man die Beteiligung von Dr. Marcus verschwieg.

Das war jedoch nicht sein einziges Betätigungsfeld. Eigentlich scheint er aus der Philosophie zu kommen und veröffentlichte 1907 ein Werk zu einer eigenen philosophische Richtung, den »Monopluralismus« (Nach der Lehre des »Monopluralismus« ist »alle Vielheit zugleich Einheit; alle Einheit zugleich Vielheit«. »Die Einheit verwischt die Vielheit nicht, die Vielheit zwingt die Einheit nicht zur Selbstaufgabe, sondern beide zusammen bilden die Dinge, und die Welt ist nicht monistisch, sie ist aber auch nicht pluralistisch: die Welt ist ein Kompromiss, ist Einheit und Vielheit zugleich, monopluralistisch.«).

Beruflich hat er sich später am Institut für Sexualwissenschaft von Dr. Magnus Hirschfeld engagiert und schrieb wohl auch für die Zeitschrift des Magazins SEXUS.

In der Schweiz arbeitete er von 1942 bis 1947 für die Universität Basel. Zwar hielt keinen Kontakt mehr nach Berlin, jedoch blieb er in Kontakt zum Mutterblatt der Moselmischen Revue, dem »Islamic Review« und begann als unregelmäßiger Autor des Blatts »Der Kreis – Le Cercle« unter dem Pseudonym Hans Alienus. Unter diesem veröffentlichte er auch Bücher und Prosa. Aus einem Nachruf aus dem Jahr 1966 in eben dieser Zeitschrift geht hervor, dass auch seine dortigen Begleiter nicht wussten, dass er Muslim war. Von seiner vorherigen jüdischen Identität ganz zu schweigen. In der Schweiz schloss er sich aber auch keiner islamischen Gemeinde an. Möglicherweise auch deshalb, weil er sich der Lahore-Ahmadiyya-Bewegung nahe fühlte diese keine Niederlassung in Basel hatte.

Manfred Backhausen gibt einige Briefe von den Machern des Kreises wieder. Aus diesen geht hervor, dass Dr. Marcus im Allgemeinen wenig Kontakt zu anderen Menschen suchte, intellektuell aber rege blieb. Ein gebrochener Mann? Einer, der mit viel Engagement in sein neues Leben aufbrach und dann doch Zeuge der europäischen Tragödie wurde? Es ist davon auszugehen, dass seine Geschwister (man weiß von zweien) während der Schoah ermordet wurden. Seine Arbeiten zum Islam auszuloten und zu würdigen, wäre Sache der Muslime. Vielleicht der Berliner? Sein Koran wurde später nachgedruckt. Die Geschichte seines Mitschöpfers scheint jedoch nicht allgemein bekannt zu sein und ist vielleicht aus mehreren Gründen (nicht durch die Ahmadiyya-Bewegung) zunächst in die Vergessenheit gerutscht. So schreibt Manfred Backhausen: »so fiel dem deutschen Muslim Abdulkarim Grimm aus Hamburg am 06.07.06 gegenüber dem Verfasser im Bezug auf die Mitarbeit von Dr. an der deutschen Qur´an-Übersetzung von 1939 nur der Satz ein: „…ach der mit seinen homosexuellen Aktivitäten…“!«

Die Zeit bis zu seiner Konversion auszuloten, ist für Juden vielleicht nicht so sehr uninteressant. Ist er ein typischer (jüdischer) Vertreter seiner Zeit? Einer, der sich nicht nur am Orient orientiert hat, sondern direkt ein Teil von ihm wurde? Natürlich gab es auch andere Strömungen innerhalb des Judentums dieser Zeit. Aber das scheint diese Zeit so besonders gemacht zu haben. Bis sie ein Ende fand.

Viele Details über das Leben von Dr. Hugo Marcus stammen von Manfred Backhausen, der sie in das Buch »Die Berliner Moschee und Gemeinde der Lahore – Ahmadiyya - Bewegung« eingearbeitet hat (hier überarbeitet).