Abschrift von Dr. Lewins Text. Abschrift von Dr. Lewins Text. 1922 hielt Rabbiner Dr. Reinhold Lewin diese »Jüdische Weihnachtspredigt« in Königsberg. Er stellt mit seiner Predigt Fragen, die heute durchaus noch aktuell sind. Seitdem sie gehalten wurde, ist sie nicht publiziert worden.

Weshalb feiern wir Weihnachten nicht?

Die Frage zur jüdischen Andacht gestellt, verblüfft zunächst und versetzt in Staunen. Sie wäre wirklich unstatthaft, nicht zu entschuldigen, nicht zu begreifen, wollte sie allgemein erörtern, was heute den Juden (der als solcher sich fühlt) von seinen Mitbürgern trennt. Worin er glaubensmäßig abweicht, steht, scharf umrissen, zweifelsfrei fest.

Jedoch ersinnt man kein Judentum gewissermaßen im luftleeren Raum, erwägt man die Judenheit, besonders die deutsche. So wie sie ist, stößt man darauf: Weihnachten zog in unserer Mitte hemmungslos ein. Nicht sein Gedankengut eroberte uns. Doch seine Feier griff so weit um sich, dass ein böses Scherzwort vor Jahren schon einen jüdischen Vater von seinem Sohn gefragt werden ließ, ob es denn auch die Christen begingen. Die Häuser unserer Gemeinde gezählt etwa dem Teil herausgegriffen, der seit langem angesessen, sich als ihren Kern bezeichnet – ich weiß nicht, ob der Chanukkahleuchter öfter als der Christbaum erstrahlte, ob Maos Zur in ihnen erschall oder das Lied von der Heiligen Nacht. Dem Leichtsinn, der bei ihnen sündigt, die Nachäfferei mit irgendwelchem Vorwand verkleidend, soll die Frage rütteln weshalb wir Weihnachten verwerfen. Die Antwort hierauf geht uns Juden an damit, wer immer die Neigung verspürt, im Klaren sei, was er, in dem er nachgibt, begeht. Der Einwand sei vorweggenommen. Der unfehlbar beschönigend auftaucht! Er sucht den Juden, der Weihnachten feiert, darauf hinauszureden, er tue hiermit nichts, was den Glauben berührt.

Der geschmückte, lichterglänzende Baum sei ein deutscher, kein christlicher Brauch. Sein Ursprung hafte nicht an des Heilands Geburt, tauche vielmehr in germanische Vorzeit hinein, die zur gleichen Frist der Sonnenwende gedachte. Bis vor kurzem beschränkte er sich ausschließlich auf Deutschland. Wer ihn über, folge also nur kerndeutscher Gewohnheit, lege ein Bekenntnis zur Heimat ab, nicht zum fremden Glauben der gleichsam den Tannenzweig künstlich sich aufpfropfte. Hält der Einwurf ernsthaft Stich? Angenommen, was er vom Uranfang der Sitte erzählt, stimmt - tritt sie dann wirklich aus Bereich und Gehege des Glaubens heraus? Wurzelt sie in dessen Boden nicht ebenso fest, wenn der germanische SonnenG-tt nicht der christliche Heiland es ist, dessen Schläfe ihr Grün umwindet? Sagt jener dem bewussten Juden stärker oder gefälliger zu als dieser? Beide lehnt des einen G-ttes Bekenner ab. Ja, hat er die Wahl, wen er bevorzugt, meine ich: mit größerer Entschiedenheit weist er das hüllenlose, unverfälschte Heidentum ab, wie es, sittlichen Anflugs bar, die Altvorderen unserer Mitbürger trieben. Wird in ihrer Wälder Dunkel der Weihnachtsbaum zurückgepflanzt von der kirchlichen Wurzel gelöst, gewinnt er für uns nicht Reiz noch Empfehlung. Aber hat es denn Zweck, so wissenschaftlich, tiefschürfend ihn zu verfolgen? Wer ihn heute aufnimmt, empfängt ihn aus den Händen der Kirche. Sie erwarb ihn zu eigen - unveräußerlich. Sie verschmolz ihn mit ihrem Gründer - unzertrennbar. Sie zierte mit ihm seine Geburt - müßig und albern fast anmaßend wirkt es auf einen Außensehenden, ob der Schmuck einst einem anderen gehörte. Ein gebürtiger Christ, der über den Glauben seiner Väter hinauswuchs, auch seinen Kindern nicht ihn vererben möchte, wird schwerlich bei sich die Tanne behalten. Nichts hilft dem Juden der sie entlehnt. Er borgt sie von einer Lehre, die seiner Überzeugung nicht entspricht, die seiner Vernunft und seinem Gemüt, dem heiligsten in ihm widerspricht. Er raubt sie aus einer Gemeinschaft, die Trost und Verheißung ihm versagt, von der Seligkeit ihn ausschließt, mit Verdammnis bedroht, Er huldigt ihrem Stifter, vor dem er sonst das Knie zu beugen verschmäht.

Allein der Weihnachtsfeier jüdische Unsitte ist noch mehr. Sie stellt nicht nur Widersinniges dar, unter dem Gesichtspunkt des Glaubens geprüft, unter den sie zunächst gehört. Nein, die Gedankenlosigkeit, die darin frevelt, ohne sich Rechenschaft abzulegen über Recht und Folge noch Tragweite, geht über den Kreis des Glaubens hinaus: sie verletzt überhaupt unseren Stolz, unsere Würde aufs tiefste. Kein Zweifel hat Raum: Weihnachten ist das Fest der Christenheit schlichtweg. Wer es begeht, feiert deren Geburt, bezeugt daran freudigen Anteil. Der christliche Glaube wäre nicht vorhanden ohne den Knaben in der Krippe. Die Gelehrten mögen streiten, ob, was er wollte, zum Manne gereift, beibehalten oder verworfen, beim Ausbau der Lehre, der Kirche benutzt ward. Er lieh der Bewegung den Namen, ihrer denkt man, spricht man von ihm. Ohne ein Werturteil über ihn abzugeben - ist sein Erscheinen, das Entstehen also zugleich der ganzen Strömung, die er entfesselt, ein froher Anlass für uns Juden?

Weltgeschichtlich angesehen, finden wir uns damit ab. Lebt in uns die Zuversicht, am Ende der Zeit werde unser Glaube leuchten, seine Glorie über alle Lande ergießen, gesellen wir die Hoffnung des Mittelalters hinzu (unsere Weltweisen sprachen sie aus), das Christentum diene auf diesem Wege als Schrittmacher. Er bereite die Masse der Heiden vor, die es durchdrang und gewann, die es, obschon getrübt und verblasst, durch mancherlei Zugeständnis verwischt, dem Dienst des einen, heiligen G-ttes ein großes Stück näherbrachte. Aber trifft auch diese Auslegung zu, sie hebt ja die Tatasche nicht mehr auf, dass Stiftung und Verbreitung des Christentums auf Kosten unserer Gemeinschaft gingen. Es drängte durch - wir mussten bei Seite, es stürmte nach vorn - wir mussten zurück; es stieg empor - wir mussten hinab. In uns sah es den Nebenbuhler, dessen bloßes Dasein den alleinseligmachenden Glauben durchkreuzte, den es für sich in Anspruch nahm. Darum hetzte es uns mit Neid und Groll, mit hassverzerrter, unversöhnlicher Leidenschaft, wie kein Volk ein andere verfolgte auf Erden.

Ob es im Geist des Mannes verfuhr, dem zu Ehren der Christbaum flammt (angeblich verzieh er sterbend den Feinden), steht dahin!

Seinen Namen rief es an, wo es im Staat den Juden drückte, als Bürger entrechtend, beruflich, gesellschaftlich einengend. Seine Botschaft schützte es vor, wenn es den Pöbel wider uns losließ, dass unser Väter Hab und Gut, Leib und Leben für vogelfrei galt. Nur sein Zeichen pflanzte es auf, wo es das Foltereisen glühen, wo es den Scheiterhaufen qualmen, wo es das Richtbeil schärfen ließ. Keine Rache glimmt in uns. Nicht Vergeltung schreit empor. Sachliche Forschung, geschichtliche Wahrheit stellen es fest: ohne die Begebenheit die unsere Mitbürger heute beglückt, wäre Israel nicht von Blut und Tränen überflutet, Der Geburt des Heilands gedenken heißt für uns die Leidenschronik entrollen. Wer, zu uns gehörig, sie ausgestaltet mit Kerzenschimmer und Tannengrün, tritt seiner Würde jämmerlich nah. Denkt er flüchtig nach, entgeht es ihm nicht, wie er ahnungslos die Ehre seiner Gemeinschaft zertritt.

Die Vergangenheit unserer Ahnen klagt ihn an und ruft ihm zu, weshalb wir Weihnachten nicht feiern. Zarte Rücksicht auf Kinder wird angeführt, die Übernahme des Christbaums entschuldigend. Dem Wunsche lässt sich Rechnung tragen, die Befürchtung ist gegenstandslos, dass unsere Jugend zur Weihnachtszeit verbittert und neidvoll zu den anderen hinüberschielt. Ihr Auge blickt nicht weniger froh den Lichterglanz, den ihr der Chanukkahleuchter schenkt. Wer die Jugend kennt, und wer sie liebt , pflegt ihren Stolz auf das, was ihr zukommt. Unser Judentum ist sich genug. Nicht andererwärts borgt es, spendet aus Eigenem Freude, Licht und Hochgefühl.

Rabbiner Dr. Reinhold Lewin wurde 1888 geboren, amtierte von 1921 bis 1938 in Königsberg. 1943 wurde er mit seiner Frau Evie und seinen zwei Kindern nach Auschwitz deportiert und ermordet.