Synagogenführung! Das kam Schmulik gerade recht. Eigentlich wollte ergar nicht ins Gemeindezentrum, aber die Gruppe stand davor und der Rabbi ebenfalls. Seitdem Katja vor drei Tagen die Tür laut hinter sich zuwarf, musste Schmulik allein durchs Leben gehen. Die Synagogenführungen für pädagogische Seminare oder irgendwelche Kurse der Uni boten sich an, Schmuliks Zeit der Einsamkeit ein Ende zu bereiten. Jedenfalls temporär. Rabbi Silberzwajg hatte sich vor etwa 40 Menschen vor dem »Baruch Goldstein Gemeindezentrum« aufgebaut. Der Rabbi liebte diese Termine. Die Zuhörer waren brav und gaben keine Widerworte. Also ganz anders als die Gemeindemitglieder von Rabbi Silberzwajg, die nicht so leicht zu beeindrucken waren. Um die Latte gleich auf die richtige Höhe zu hängen, fiel er dem ersten ins Wort, der sagte, er freue sich auf die »Synagogenführung«. »Wenn das eine Führung ist – was bin dann ich? Der >Führer< ?! Was wollen sie mir damit sagen?« Nachdem das geklärt war, hörten die meisten Gruppen ihm widerspruchslos zu.
Rabbi Silberzwajg riss, wie immer, die Geschichte der Namensgebung an. Baruch Goldstein war kein Mann aus der Gemeinde, so erklärte es der Rabbi stets, sondern ein »zionistischer Aktivist«, der leider in Ausübung seiner Berufung ums Leben gebracht wurde.
Vorher hieß das Gemeindezentrum wie der langjährige Vorsitzende, das hatte seinerzeit sein Sohn, der neue Vorsitzende so beschlossen. Schmulik erinnert sich noch gern an die große Einladungskarte: »Wir laden Sie ein zur Bar Mitzwah unseres Sohnes Daniel Salomonski, in der Synagoge im Salomonski-Gemeindezentrum am Salomonski-Platz. Wir laden anschließend zum Kiddusch im Salomonski-Saal. Es grüßt die freudige Familie Salomonski«. Die Salomonskis wohnten übrigens zwei Straßen weiter - am Salomonski-Platz. Aber nicht viele Gemeindemitglieder wollten die Erbmonarchie weiter unterstützen. Die Aufstände des arabischen Frühlings machte ihnen Mut. Die Salomonskis erwiesen sich leider als härtere Gegner und so wurde es still im Salomonski-Gemeindezentrum, bis der Rabbi auf den Plan trat. Eines Tages lud er die Familie zu sich nach Hause ein. Eine Woche später verließ die Familie fluchtartig die Stadt. Herr Salomonski hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, dem Gemeinderat zu instruieren, wer nächster Vorsitzender werden solle. Rabbi Silberzwajg erklärte statt dessen das Prinzip der Rabbinergeführten Gemeinde und so kam es dann auch. Viel Familie hatte er nicht. Er musste einen Verwandten in Israel haben, denn stets sprach er einen »MiScheberach« - einen Segen für eine Person namens Jigal Amir »Jigal ben Geulah«. Irgendwie musste die Person ihm ja etwas bedeuten. Aus der Gemeinde traute sich aber niemand so recht, weil niemand so tun wollte, als wüsste er nicht über das Privatleben des Rabbis aus.
Nach seiner Einleitung fuhr Rabbi Silberzwajg gerne mit Statistik fort und das war auch eine der ersten Fragen an ihn. Wie viele Juden leben in der Stadt? Vielen Fragestellern rutscht oft ein »noch« dazwischen - »wie viele Juden leben noch in der Stadt?«
Rabbi Silberzwajg meinte, es gäbe da verschiedene Zahlen. Wenn man die nichtjüdischen Bewohner fragen würde, wären es zigtausende. Fragt man genauer, würden sie wohl sagen »zu viele«. Würde man die Gemeindemitglieder fragen, würden die wohl antworten, sie seien die letzten – es gehe zu Ende. Käme man zum Gebet, dann würde man den Eindruck bekommen 10 Juden seien noch in der Stadt. Vielleicht sind es zweitausend? Wer weiß das schon? Und wozu soll man das wissen wollen? Die Qualität sei schließlich ausschlaggebend. Wozu soll das jemand wissen wollen? Um zu schauen, ob die Stadt etwa judenrein ist?
Der Rest der Führung war Standard: Kurz erklärt, warum Frauen und Männer getrennt sitzen, Torahschrank gezeigt, Fragen zur Torah erklärt, am Ende wurden noch durch einen Anwesenden »kompromittierende Stellen aus dem Talmud« verlesen zu denen Rabbiner Silberzwajg schon einen Handzettel vorbereitet hat. Den kann man für einen Euro nach dem »Rundgang« erwerben. Die Gruppe war ansonsten langweilig für Schmulik. Aber am späteren Nachmittag wurde eine weitere erwartet. Eine Gruppe von Pädagogik-Studentinnen aus der kasachischen Partnerstadt. Das fand Schmulik schon interessanter. Über das Mobiltelefon wärmte er schon einmal das Wasser im Whirlpool vor.