Nach der Renaissance des jüdischen Lebens

Wenn man die jährliche Mitgliederstatistik der Jüdischen Gemeinden betrachtet, kann man eine gute Nachricht vermelden: Die 100.000 Mitgliederschwelle ist 2012 noch nicht unterschritten worden.

Von 102.797 auf [highlight]102.135[/highlight]. Das sind »nur« 662 Mitglieder weniger.
Im Vorjahr gingen 1227 Mitgieder verloren (von 2010 auf 2011).
Das negative Wachstum ist also abgeschwächt, aber noch vorhanden.
Gesamtstatistik 2012
Bemerkenswert ist die individuelle Betrachtung von Landesverbänden und Gemeinden. Hier gibt es Landesverbände, die weiterhin zulegen und welche, die in einem permanenten Schrumpfungsprozess stecken. Der Landesverband Baden etwa, wächst jährlich um zwei Prozent. Weitere Wachstumskandidaten sind Brandenburg (?), Nürnberg und der liberale Landesverband von Schleswig-Holstein. Negative Spitzenreiter sind Hamburg, Thüringen und Saar. Einige andere Landesverbände setzen ihren »Minus-zwei-Prozent«-Kurs fort. Westfalen-Lippe oder Würtemberg etwa.
Zugänge und Abgänge
Berlin bleibt ebenfalls interessant. Trotz eines gewissen Zores-Levels, wächst Berlin leicht. 112 Austritten stehen 249 Zuzügler aus dem Ausland, 99 aus anderen deutschen Gemeinden und 27 Übertritte gegenüber. 181 Todesfällen allerdings nur 17 Geburten (Frankfurt, München und Nordrhein sind fleißiger – bei weitaus weniger Mitgliedern).
Die Renaissance war 2004/2005 herum – mit einem Aufbau der entsprechenden Infrastruktur. 2006 war der »Scheitelpunkt« erreicht und nun müsste man sich vielleicht Gedanken machen, wie man trotzdem eine kleinere Infrastruktur schafft, die auch von kleineren Gemeinden aufrecht erhalten werden kann. Sofern die Notwendigkeit dafür besteht.
Alle Daten kann man in der Statistik der ZWST nachlesen.

Von Chajm

Chajm Guski ist nicht nur Autor dieses Blogs und Bewohner des Ruhrgebiets, sondern auch Herausgeber von talmud.de und Organisator des Minchah-Schiurs im Ruhrgebiet. Einige seiner Artikel gibt es nicht nur im Internet, sondern beispielsweise auch in der Jüdischen Allgemeinen. Über die Kontaktseite kann man Chajm eine Nachricht senden. Man kann/soll Chajm auch bei twitter folgen: @chajmke. Chajms Buch »Badatz!« 44 Geschichten, 44 zu tiefe Einblicke in den jüdischen Alltag, gibt es im Buchhandel und bei amazon. Sein Buch »Tzipporim: Judentum und Social Media« behandelt den jüdischen Umgang mit den sozialen Medien. || Um per Mail über neue Beiträge informiert zu werden, bitte hier klicken

20 Kommentare

  1. “Frankfurt, München und Nordrhein sind fleißiger – bei weitaus weniger Mitgliedern”.
    Das habe ich nicht verstanden. Nordrhein ist mit großen Abstand mitgliedstärkste Landesverband und übertrifft Berlin um satte 40%.

  2. “… Die 100.000 Mitgliederschwelle ist 2012 noch nicht unterschritten worden … Das negative Wachstum ist also abgeschwächt, aber noch vorhanden …”

    Ach, tatsächlich? Wow, Wahnsinn, stolze 100.000 Mitglieder! Holy Moses, und über so eine Nachricht/ Statistik freut man sich in Deutschland, so frage ich mich!? 🙂

    Shalom

    Miles

        1. Die Altersverteilung ist wie zuvor nicht ermutigend. Die Senioren dominieren klar. Die Altersgruppe 61-80 ist doppelt so gross wie die 21-40. Das kann demographisch nicht gesund sein. 1989 waren die noch etwa gleich stark.

        2. Aus „Inneren“ betrachtet verstehe ich nicht Diskussionswert dieser Zahlen. Warum soll man fröhlich oder betrübt sein? Man hat das bekommen, was man genommen hat zusätzlich zu dem, was man selbst gemacht hat (ja, die Kinder fallen nicht vom Himmel). Nicht mehr und nicht weniger. Alternative wäre das bereits eingetretene Ende bis spätestens Mitte der 90-ger. So wurde das Ende bis weit ins 2020-2030 verlagert UND diejenigen, die etwas verändern wollen, bekommen die Chance es auch zu verändern (mit anderen Worten besser zu machen als die, die es schon mal vergeigt haben und jetzt so tun, als ob die 100.000 deren persönlicher Verdienst ist und zusätzlich noch ausblenden, dass noch mal 100.000 draußen geblieben sind). Ich sehe hier zwar kein Grund zu Freude, denn die 100.000 sind kein innerer Wachstum, aber genauso sehe ich kein Grund sich zu wundern oder so tun, als ob ich überrascht wäre. Demografische Erkenntnis hatte jeder nicht Faule bereits gewonnen, der die Übergangsheime in Unna in frühen 1990-gen besucht hat. Ach, hat man nicht besucht?! Es ist nun mal kostenlos sich jetzt über die Zahlen zu echauffieren.
          Was manche ständig und überall, Jahr für Jahr tun nur um die Formel “Alles schlecht; Demografie; Tote Seelen; 5 vor zwölf; Rettet die Jugend; Aussterben; Nichtjüdische Ehepartner als Gemeindemitglieder” gebetsartig los zu lassen, wird mir langsam unerträglich. Diese Begriffe sind so oft verwendet wurden dass ich immer an das Meetingspiel „Bullshit!“ denken muss. Völlig unabhängig davon, ob diese Begriffe auch im Bezug auf uns stimmen oder nicht und falls ja- in welchen Masse stimmen diese. Das sieht aus wie ein Stammtisch, an dem jeder jeden bis zu Unmöglichkeit kennt, an dem schon alles hundert Mal gesagt wurde und man dreht sich im eigenen langweiligen Saft und wiederholt: „Ja, muss, ne. Ja, muss. Ne, es muss ja. Muss, nicht wahr. Sicher, es muss. Ja. Jo. Tote Seelen. Alles alt. Goyische Männer. Muss, ne. Ja. Jo. Klasse gesagt Avrumtchik, du hast aber denen allen gezeigt, nächste Runde geht auf mich. Nicht wahr, ne. Jo.“.

          1. Die Demografie ist ein Teil der Geschichte. Ein anderer ist die Gewichtung des Engagements.
            Wenn Du betrachtest, wieviele Menschen sich außerhalb der »Strukturen« engagieren (ich zähle mich in aller Bescheidenheit mit kleinen Projekten dazu) und dieses Engagement Früchte trägt, ohne aufwendige Infrastruktur und ihre entsprechenden Kosten, dann müsstest Du zu dem Schluß kommen, dass hier der Schlüssel für ein lebendiges Judentum liegt.
            Deshalb ist es doch nur folgerichtig, wenn man beständig darauf hinweist, dass wir eine Infrastruktur erhalten, die möglicherweise überdimensioniert ist und letztendlich nicht zum »inneren« Überleben beiträgt, sondern eventuell in absehbarer Zeit eine schwere (finanzielle) Belastung darstellt.

            Das Ding ist: Es gab einige, die das bereits früh formuliert haben und darauf hinwiesen, dass wir da nur einem temporären Wachstum begegnen und es vielleicht nicht so sehr klug ist, ein Gemeindezentrum für 1.000 Menschen zu bauen, wenn die Gemeinde 1.000 Mitglieder hat. Damit hat man sich vielerorts unbeliebt gemacht und aus dem Orbit der Gemeinden geschossen.

            Will sagen: Wer die Zahlen Ernst nimmt, ist klug und hilft dabei, etwas zu organisieren, wenn er am Judentum interessiert ist.
            Ein reines lamentieren hilft tatsächlich weniger. Aber es hilft auch nicht, beständig von einer Renaissance des Judentums zu sprechen.

  3. Glaube keiner Statistik, die du selber nicht gefälscht hast. Ich würde noch ungefähr 10-20% an toten Seelen in jeder Gemeinde sehen, die zwar in der Statistik auftauchen, aber real nicht existieren. Doppeltmitgliedschaften, Zurückwanderung, Auswanderung, Todesfälle die einfach nicht abgemeldet wurden. Was das alter angeht hat Chajm und Yankel recht, wobei ich es etwas düsterer sehe: Gemeinden die weniger als 1000 Mitglieder haben werden durch Abwanderung der Jugend gepaart mit der Altersverteilung in sehr naher Zukunft Existenzprobleme haben.

    1. @ K.P. Leider gibt es dazu keine verlässlichen Zahlen 😉 Mittlerweile wurde mir mitgeteilt, dass es da offenbar verschiedene Varianten gibt, ein wenig an den Stellschrauben für die Anzahl der Gemeindemitglieder zu drehen. So gibt es anscheinend Gemeinden mit Mitgliedschaften für nichtjüdische Familienangehörige. Schwer, dann die Vitalität solcher Gemeinden zu beurteilen
      Das sind aber alles Dinge, die man nicht herausrechnen kann, weil es dafür keinen Faktor gibt.
      Für die »Vitalität« sollte man andere Faktoren heranziehen. Vielleicht »Wie viele Beter kommen zum Schacharit«, »gibt es Lerngruppen«, »gibt es Menschen, die Kaschrut beachten«, »wie viele Menschen nehmen an regelmässigen Veranstaltungen teil« oder »wie viele Menschen organisieren selber etwas«?
      Ich schrieb das bereits: Am Ende werden Kerngruppen aus Gemeinden übrig bleiben. Gruppen die überdurchschnittlich aktiv sind, aber vermutlich sehr klein.

      Auf der anderen Seite gibt es eine, vermutlich nicht kleine, Anzahl von Personen, die zwar jüdisch sind, aber nicht Mitglied einer Gemeinde. Berlin dürfte ein großartiges Beispiel dafür sein. Nur ein Teil der israelischen Bewohner Berlins dürfte sich in der Gemeinde angemeldet haben.

  4. Ich würde auch diesen Zahlen nicht so richtig glauben…leider. In einigen Städten wollen die Juden in der Gemeinde nicht Mitglied sein ( woran es liegt ist es eine andere “Baustelle”). Versuche immer noch aus unabhängingen Quelle Informationen zu besorgen.

  5. Angesichts der Tatsache, dass wir gerade die Wochenabschnitte ????? und ??? gelesen haben, in denen es vordergründig auch um Volkszählungen und Demographie geht, ist es IMHO hilfreich, sich nochmal eine Torah-Perspektive zum Thema zu gemüte zu führen, vefügbar hier vom britischen Oberrabbiner Jonathan Sacks. Enjoy!

  6. … In einigen Städten wollen die Juden in der Gemeinde nicht Mitglied sein ( woran es liegt ist es eine andere “Baustelle”)…

    Guter Punkt, ganz richtig erkannt! Ich vermute, das liegt ganz einfach am Unterschied zwischen “Glauben” und “Religiosität” – oder!?

    Shalom!

    Miles

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