Am Morgen wachte Schmulik schweißnass auf. Zitternd griff er nach der ersten Zigarette des Tages. Er hatte vollkommen wirr geträumt. Irgendeines der Wodka-Gläser am Abend, musste eines zu viel gewesen sein. Nachdem er die Fernsehdiskussion »Die Deutschen wollen keine jüdischen Nachbarn – sind sie deshalb Antisemiten?« gesehen hatte, wollte er die schlechte Performance seines Bruders in der Sendung runterspülen.

Seit Rachel ausgezogen war und sich mit dem Satz »Ich brauche meinen Freiraum« verabschiedet hatte, fand Schmulik wieder den tiefsten Schlaf, den er sich vorstellen konnte. In seinem Traum hatten Laienschauspieler nun auch im Ruhrgebiet Passionsspiele eingeführt. Die wundersame Heilung eines leprösen Blumenverkäufers am Hinterausgang des Bahnhofs hatte dazu geführt, dass sich eine Gruppe von Neubekehrten und Neugetauften dazu verpflichtete, nun jährlich die Passion des Erlösers nachzuspielen. Im Gegenzug erwarteten sie, dass der Erlöser sie vor weiteren Krankheitsfällen verschont. Nach überlieferten Vorbildern, zog nach der Vorstellung ein wütender Mob mit Fackeln durch die Stadt. Um der Modernität Rechnung zu tragen, hieß der Slogan statt »Christus-Mörder« nun »Christ-Killer«. Und aus Ermangelung an jüdischen »Mitbürgern« wurde alles Mögliche angezündet, was irgendwie im Weg herumstand. Bis sich jemand an Schmulik erinnerte. Sein Leserbrief an den »Ruhrgebiets-Beobachter«, in dem er forderte, das Stadion der Stadt müsse nach Theodor Herzl benannt werden, wurde von der umsichtigen Redaktion ausnahmsweise mit voller Adresse abgedruckt. So versammelten sie sich schließlich vor Schmuliks Haustür, kamen aber nicht rein. Schmulik öffnete nicht. Statt dessen skandierten sie unten »Sein Blut komme über Dich« und der blonde Christus-Darsteller wurde auf das Kreuz gebunden und in die Höhe gereckt. Der Bursche tat Schmulik im Traum ein wenig leid. Wusste er vorher, worauf er sich da eingelassen hatte? »Sein Blut komme über Dich, sein Blut komme über Dich«. Beängstigend fand Schmulik das. Für den blonden Jesus. Immerhin ging es ja um sein Blut. Vorerst wollte Schmulik den Mob ruhig stellen und entschied sich dafür, dass sein Tscholent stattdessen über sie kommen sollte. Als er gerade auf dem Weg zum Ofen war, um den Tscholent zu holen, erwachte er und schreckte hoch. Es war nur ein Traum!

Als Schmulik in die Küche kam, hatte Olga schon das Frühstück vorbereitet. Olga hatte er kürzlich beim Seder abgeschleppt. Ein guter Fang für ihn. Nach dem ersten Aufruf von WhatsApp, um zu sehen, ob sich die rothaarige Tanja vielleicht gemeldet hatte, die er beim zweiten Seder traf, las er die Nachricht von Mustafa. Dem Fotografen. Er käme heute Abend in die Stadt. Hat einen Auftrag.

Soll die Premiere von Passionsspielen im Ruhrgebiet fotografieren.