Noch vor der Premiere durfte ich eine Probe sehen und mir ein eigenes Urteil bilden Die Aufführung des Musicals »Anatevka« hat ihn Deutschland ihr ganz eigenes Spannungsfeld und das scheint mögliche Produzenten zu verunsichern. Immerhin behandelt der Stoff Juden im russischen Reich - also ein Gebiet, welches heute zur Ukraine und Polen gehört und das Leben im Schtetl. Ungefähr um das Jahr 1905. Also nur 35 Jahre bevor deutsche Truppen die Juden der Region zusammenfassen und ermorden. Ist das überhaupt heute noch Thema, oder verunsichert dieses Thema vielleicht eher unterbewußt?

Dem scheint aber nicht so zu sein. Das Stück wurde 1968 (vielleicht ist das Jahr kein Zufall) zum ersten Mal aufgeführt. Statt dessen haben sich andere Probleme ergeben: Sicher auch beeinflusst durch den Film »Fiddler on the roof«, der die Bildsprache des Stückes beeinflusst haben könnte. Ein alter Mann namens Tewje und seine alte Frau sind die Hauptfiguren. In Gelsenkirchen hat man nachgerechnet und ist richtigerweise zu dem Schluß gekommen, dass Tewje wohl kein alter Mann war, also wohl nicht richtig in das Klischee weißbärtiger alter Mann passt. Wenn die älteste Tochter um die 20 ist und dafür schon fast zu alt zum Heiraten, dann wird wohl das Elternpaar kaum die 60 überschritten haben. Besonders positiv fällt zudem auf, dass niemand versucht, sich den Akzent eines Jiddischsprechers anzueignen. Überhaupt hat man auf das Nachahmen anderer Produktionen verzichtet und alles neu entdeckt. Choreografin Kati Farkas bedient sich des Ballets des Musiktheaters (es spielen also Schauspieler, Musical-Darsteller, Opernsänger und Tänzer gemeinsam) und bedient sich auch hier nicht aus der Klischee-Kiste sondern schuf etwas ganz eigenes, nachdem sie entdeckt hatte, das viele jüdische (Volks-)Tänze sich der gleichen Elemente bedienen, wie die Volkstänze Osteuropas. Ähnlich sieht es mit der musikalischen Umsetzung. Die Musik ist auch gründlichst überarbeitet worden, auch hier ohne einen Griff in die Schmalzdose - auch hier der Prämisse folgend, dass es DIE jüdische Musik nicht gibt und so erklärt Musiker Norbert Labatzki richtigerweise, dass es nicht nur eine jüdische Musik gibt, sondern das gerade auch von der geographischen Verortung abhängig ist. Tatsächlich hat man aus dem Stück das Juden zeigt (oder zeigen könnte) ein Stück gemacht, das Menschen zeigt, die in und mit ihren Konflikten leben müssen und zugleich von ihrer Umwelt beständig angefeindet werden. Wer die Musik grundsätzlich mag, kann sich die Produktion in Gelsenkirchen also durchaus anschauen, ohne in ein gut gemeintes Stück geraten zu sein. Dass bei der Brachah über das Anzünden der Schabbat-Kerzen ein Teilsatz fehlt, ist da leicht zu verschmerzen.

Die Premiere wird am 17. Dezember in Gelsenkirchen sein.