Im Zusammenhang mit der Hysterie um die Rede von Bundespräsident Christian Wulff zum Tag der deutschen Einheit, kam wieder ein interessanter Begriff im Schlagabtausch der Meinungen auf. Der Begriff von einer christlich-jüdischen Tradition in Deutschland. Um nur ein populäres (leider) Beispiel zu nennen; Hugo Müller-Vogg von der Bild:

Unser Verständnis von Freiheit und Menschenwürde gründet auf unserer christlich-jüdischen Tradition und der Aufklärung. von hier

Mir kommt es ein wenig so vor, als möchte man doch »christliche« Tradition schreiben, aber neuerdings hat man diese »jüdisch-christliche« oder »christlich-jüdische« Tradition entdeckt und niemand kann so recht sagen, woher dieser Begriff eigentlich stammt. Der Begriff Tradition erweckt nämlich den Eindruck, es habe in den letzten zweitausend Jahren eine friedliche Symbiose beider Religionen gegeben. Dabei hat es die auch in der jüngeren Geschichte nicht gegeben. Die jüdische Geschichte in Deutschland ist ja eine jahrhunderte lange Geschichte der Ausgrenzung und zum Schluss dann auch recht einseitigen Liebe. Wie Ramona Ambs schon in ihrem Text »Ausgeprägtes Markenbewusstsein« feststellt, wird der Begriff aber auch nur dann benötigt, wenn es darum geht, sich gegen eine weitere Partei abzugrenzen:

Als Familienministerin von der Leyen 2006 eine Wertekonferenz (Bündnis für Erziehung) einberief, lud sie dazu nur Vertreter der christlichen Kirchen ein. Das Christentum sei Grundlage, immerhin handle man nach den “christlichen Zehn Geboten”. von hier

Almut Schulamit Bruckstein Çoruh stellt dies nun auch im Tagesspiegel fest:

Nein, es gab keine jüdisch-christliche Tradition, sie ist eine Erfindung der europäischen Moderne und ein Lieblingskind der traumatisierten Deutschen. Jüdisch-christlich ist eine Konstruktion, geprägt von einer Genese des Fortschritts, die in der Reformation und in der Französischen Revolution gipfelt. Erst nach der Schoah hat in Deutschland ein jüdisch-christlicher Dialog begonnen. Dabei entsprachen die Trennlinien dieses Dialogs paradoxerweise ziemlich genau den Trennlinien zwischen muslimischen und christlichen Überzeugungen heute. Selten gibt es für die offensichtlichen Gemeinsamkeiten dieser beiden Traditionen auch ein öffentliches Zeugnis, wie etwa zur Zeit, als die Republik über Navid Kermanis Äußerungen zum Kreuz in helle Aufregung geriet und Fürsprecher wie Micha Brumlik am Ende doch, wenn auch eher leise, darauf hinwiesen, dass auch für viele Juden – wie soll man es sagen – jede Form der Kreuzestheologie letztlich Blasphemie bleibt. von hier

Aber Bruckstein Çoruh folgert auch etwas daraus:

In Zeiten, in denen muslimische Traditionen unter Generalverdacht stehen, bedarf es einer erneuten Liaison der jüdischen Intellektuellen mit den Muslimen dieses Landes. von hier

Nötig wäre es alleine schon deshalb, weil diejenigen, die gegen den Islam hetzen immer so tun, als würden sie Israel und die Juden toll finden und dabei versuchen, beide als Gegenpol zum Islam zu montieren.