„Jeder ist Israeli wird als Nichtjude betrachtet, bis das Gegenteil bewiesen wurde“ schreibt Alana Newhouse, Herausgeberin des jüdischen „Tablet Magazine“ in der New York Times. Hintergrund dieser Polemik war ein israelisches Gesetzesvorhaben zu Übertritten, welches mittlerweile zwar nicht mehr unmittelbar entschieden wird, aber auch nicht vollkommen vom Tisch ist. Zurückgestellt wurde es, weil es aus dem Ausland Proteste nichtorthodoxer Organisationen hagelte und Ministerpräsident Netanjahu persönlich zum Handeln aufgefordert wurde. Im Oktober soll nun das Gesetz zur Abstimmung in die Knesset gehen. Ein israelisches Gesetz, das im Ausland leidenschaftliche Diskussionen auslöst? Wenn US-amerikanische Rabbiner und ihre Kollegen auf der ganzen Welt Briefvordrucke an den Ministerpräsidenten Netanjahu ins Internet stellen und Proteste organisieren, dann muss es sich um eine Angelegenheit handeln, die zumindest die Interessen des Judentums in der Diaspora berührt oder beeinflusst. Doch, worum geht es eigentlich? David Rotem aus der Siedlung Efrat, Knessetabgeordneter von Israel Bejtejnu, wollte ein Wahlversprechen Avigdor Liebermans an seine vielen Wähler einlösen, die aus russischsprachigen Ländern nach Israel gekommen sind: Eine leichtere Aufnahme ins Judentum von nichtjüdischen Familienangehörigen der Einwanderer, oder eine leichtere Aufnahme ins Judentum für Menschen, die als Kinder jüdischer Väter Aufnahme im Land Israel gefunden haben. Um den Prozess des Übertritts zum Judentum zu erleichtern, sah das Gesetz vor, dass alle Statusfragen in Zukunft durch örtliche Rabbiner im Lande abgeklärt werden dürften und diese Entscheidungen dann vom israelischen Oberrabbinat anerkennt werden würden. Eigentlich eine Dezentralisierung dieser Statusfragen, welche theoretisch eine mögliche Hemmschwelle für diesen Schritt herabsetzen sollte. Hinzu kommt das Argument, dass örtlichen Rabbiner ja auch die Kandidaten tatsächlich kennenlernen könnten und sie deshalb besser geeignet sind, mögliche Kandidaten zu betreuen. Zugleich soll aber eine Gerichtsbarkeit entstehen, die sich nur mit Übertritten und Statusfragen beschäftigt und bei zweifelhaften Entscheidungen Recht spricht. Die Annullierung von Übertritten soll ausschließlich dem Vorsitzenden eines obersten rabbinischen Gerichtes möglich sein. Gegner des Gesetzesvorschlags sehen darin einen Versuch, die Entscheidung von Statusfragen zu monopolisieren und vollkommen in die Hände orthodoxer Rabbiner zu legen. Eben in die Hände jener Rabbiner, die zuvor vom Oberrabbinat mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet würden. Man verortet die Zusammensetzung des israelischen Oberrabbinats heute eher im charejdischen - ultraorthodoxen Judentum und fürchtet daher eine Durchsetzung entsprechender Normen. Es wird weiter befürchtet, dass nur Übertritte die nach ihren Normen durchgeführt werden oder in der Vergangenheit durchgeführt wurden, anerkannt werden würden. Tatsächlich würde dies in der Konsequenz bedeuten, sie dürften die jüdische Identität jeder beliebigen Personen die mit dem „Judentum“ in Israel in Berührung kommt, also etwa bei Eheschließungen oder Bestattungen, in Frage stellen und auch gegebenenfalls abschlägig entscheiden. So brachte der Versuch von David Rotem, weitere Personen leichter zum jüdischen Volk zu bringen und in die israelische Gesellschaft zu integrieren, eine neue Diskussion der „jüdischen Identität“ mit sich. Aus einer nationalen Frage wurde eine von internationaler Tragweite. Von einem nationalen Projekt eine internationale Verwicklung – und das obwohl das Chok HaSchwut, das israelische Rückkehrgesetz noch nicht in Frage gestellt wurde. Derzeit erlaubt es die Einwanderung nach Israel allen „Juden“, ganz gleich, ob sie nur einen jüdischen Vater haben oder bei irgendeiner Strömung zum Judentum übergetreten sind. 2002 hatte der oberste israelische Gerichtshof diese Regelung unterstrichen und betont, dass auch Übertritte im Ausland anerkannt werden. „Zielgruppe“ für Rotems Vorschlag wären etwa 300.000 Menschen die nach Israel gekommen sind, durch das Rückkehrgesetz als berechtigte Einwanderer anerkannt wurden, nach halachischen Maßstäben jedoch keine Juden sind. Eine Lösung wurde bereits unter Ariel Scharon angestrebt. 2002 begann man mit dem Aufbau eines „organisierten“ Übertrittswesens unter Rabbiner Chajm Druckman. 2008 jedoch hob das israelische Oberrabbinat die Übertritte durch Druckmanns „Behörde“ wieder auf. Aus Juden wurden Nichtjuden nach dem Willen des Oberrabbinats.

Diese leidenschaftliche Debatte wurde also, wieder einmal, durch die Frage ausgelöst „Wer ist Jude“ und „Wer hat das Recht zu entscheiden, wer Jude ist?“ Die heftigen Reaktionen zeigen, dass dies keine Angelegenheit ist, die man als innenpolitische Angelegenheit abhandeln kann. Die aktuelle Debatte offenbart, dass es keine einheitliche Sicht auf die Definition von „Judentum“ und die Identität als „Jude“ gibt. Wer die Frage „wer ist Jude?“ stellt, muss zwangsläufig fragen „was macht das Judentum aus“ und das dürfte auch eine der meist gestelltesten Fragen nichtjüdischer Menschen sein, die sich für das Judentum interessieren.

Wer ist nun Jude? Was ist das Judentum? Nation? Volkszugehörigkeit? Ganz simpel eine Religion? Nation, Volkszugehörigkeit, nur Religion. Jede dieser Antworten kann man erhalten. Ist das Judentum eine Religion? Natürlich ist das Judentum eine Religion mit einer Reihe von Regeln und gemeinsamen Werten. Aber nicht ausschließlich, es scheint, als sei das Judentum die Religion der Juden. Eine ganze Reihe von Juden würden sich dem gegenüber nicht als religiös bezeichnen, bleiben aber dennoch Juden. Es gibt auch Atheisten, die sich als Juden bezeichnen würden, oder sich bewusst als Juden betrachten. Es ist kein Geheimnis, dass sich in Israel viele Menschen als säkular bezeichnen. Bilden Juden denn dann eine Nation? Es steht doch in der Torah, dass Juden ein „Goj kadosch – heiliges Volk“ (2.B.M. 19,6) sind. Eine Gruppe von Menschen mit gemeinsamer Geschichte, gemeinsamen Bräuchen, gemeinsamen Mythen und Geschichten und sogar einem gemeinsamen Wertesystem. In der Sowjetunion wurde das Judentum tatsächlich als „Nationalität“ im Pass eingetragen. Aber auch diese Definition ist zu „eng“. Juden sind keine Gäste in den Ländern in denen sie leben und haben keinen „jüdischen Pass“ in der Tasche.

Aber zumindest eine ethnische Gruppe!? Hier greift eine ähnliche Definition wie bei der Nationalität. Aber wie viele Gemeinsamkeiten gibt es zwischen dem aschkenasischen Juden und einem jemenitischen Juden? Für jede der Definitionen gibt es überzeugende Argumente und Gegenargumente. Rabbiner Adin Steinsaltz definierte deshalb eine weitere, umfassendere, Definition. Das Judentum sei „keine Religion, keine Nation keine ethnische Gruppe oder Rasse“ – sondern eine „Familie“. Womit er die meisten Phänomene der Interaktion zwischen Juden erklärt. Wenngleich man sich streitet, so gibt es doch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit; denn wenn die verhassten Diskussionsgegner von anderen angefeindet werden, zeigt man sich solidarisch. Wenn Juden etwas erreichen, dann hat man irgendwie Anteil daran. Der Sechstagekrieg hat viele unbewusste Juden sich mit ihrer Identität beschäftigen lassen. Wer zum Judentum übertritt, der wird nicht nur in speziellen religiösen Fragen geschult, sondern er wird Teil der Familie. Nun stellt sich die Frage, wer Teil der Familie sein darf. Die meisten jüdischen Gemeinden klären derartige Statusfragen innerhalb ihrer Strömung oder unterliegen in dieser Frage klar formulierten Statuten. Wer Strömungsgrenzen überschreitet, befindet sich auf unsicherem Territorium. Die Entscheidung eines israelischen Rabbiners zu Statusfragen hat deshalb auch keine unmittelbare Auswirkung auf die Situation in Deutschland. Die Gemeinden sind autonom in ihren Entscheidungen und mit der Allgemeinen Rabbinerkonferenz und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz sind zwei Körperschaften entstanden, die sich auch um Statusfragen kümmern, denn diese werden weiterhin direkt vor Ort geklärt. Die jüdische Gemeinde Warschau etwa orientiert die Frage nach Mitgliedschaft am „Chok haSchwut“. Wer einen jüdischen Vater hat, darf Mitglied der Gemeinde werden. Davon unberührt ist jedoch etwa die Teilnahme an religiösen Ereignissen. Israel und die Diaspora rücken immer mehr zusammen, der Austausch ist größer als jemals zuvor und Jüdinnen und Juden jeder Strömung wollen ihre Strömung im jüdischen Staat repräsentiert sehen. Dieser Anspruch an die Familienmitglieder im jüdischen Staat ist hoch und offenbar gibt es noch Potential für Überzeugungsarbeit. Gesetzgebungsverfahren dagegen werden Sichtweisen zementieren, ganz gleich welche Berechtigung sie haben.