Die Emotionen zum Flottillendesaster schlagen hoch, in großer Geschwindigkeit. In einer Geschwindigkeit und Intensität wie sie nur dann erleben, wenn Israel beteiligt ist - jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, dass die Bombardierung der Tanklastzüge bei Kunduz mit ungefähr 140 Toten zu solch heftigen Reaktionen geführt hat. Hier wurden gerade die Auswirkungen verglichen, nicht die Umstände!

Da werden heftigst Argumente ausgetauscht: Hatte die Marine das Recht auf die Erstürmung des Bootes? War die Bootsbesatzung bewaffnet, worum ging es eigentlich der Schiffsbesatzung wirklich?

Die ganze Geschichte und ihre Entwicklung hat mehrere „Schichten“. Versuchen wir sie einzeln zu betrachten und nicht alles in eine riesige Suppe werfen:

Eine Schicht die wir als erstes betrachten und die Kommentator Omar in einem Kommentar zum ursprünglichen Artikel (hier) ins Spiel brachte:

Die Aufmerksamkeit darf aber nicht nur darauf gerichtet werden, dass den Menschen im Gaza-Streifen wenig Lebensmittel zur Verfügung steht, sondern auch, dass sie – und darum geht es hauptsächlich – eingesperrt sind!

Wir haben zum einen die üble Lage im Gazastreifen. Dadurch verursacht, dass Israel die Grenzen dicht gemacht hat. Das hat bekanntlich mit der Ablehnung der Hamas zu tun (jetzt können wir uns darüber fetzen, ob die Hamas Partner sein kann). Es ist jedoch unübersehbar, dass die Situation nicht lange so bleiben kann. Dass sich etwas ändern muss, ist ja offensichtlich und klar. Die Frage ist, ob das nicht auch anders erreicht werden kann? Ganz aktuell äußert sich David Grossman in einem ausführlichen Artikel dazu (am 02. Juni 2010 auch in deutscher Sprache in der FAZ)

The closure of Gaza has failed. It has failed for four years now. What this means is that it is not merely immoral, but also impractical, and indeed worsens the entire situation, as we are reminded at this very hour, and also harms the vital interests of Israel. The crimes of the leaders of Hamas, who have held the Israeli soldier Gilad Shalit captive for four years without once allowing the Red Cross to visit him, and who fired thousands of rockets from the Gaza Strip at Israeli towns and villages, are acts that must be firmly dealt with, utilising the various legal means available to a sovereign state. The ongoing siege of a civilian population is not one of them. von hier

Grossman unterscheidet auch zwischen der Bevölkerung und der Hamas, gegen die mit aller Härte vorgegangen werden soll. Warum schreibt er ja auch.

Dann haben wir die Schicht der Gruppe auf dem Boot welches Widerstand geleistet hat. Da haben wir eine Untergruppe (?) von Personen, die offenbar meinen, sich in einem Kampf gegen Israel zu befinden. Vielleicht nicht alle, aber ich denke, es gibt einen Kern, der die anderen Aktivisten gleich miteinbezogen hat. Das ist schon einmal eine schlechte Voraussetzung für eine „Friedensmission“. Deshalb denke ich, dass es ganz gut in ihre Agenda passt, dass die Marine gegen das Boot (eines von mehreren Booten der Flottille) vorgegangen ist. Eine Situation in der man aus Propagandasicht nur gewinnen kann: Läuft das Boot in Gaza ein – Sieg über Israel (und nur ein marginaler Hinweis auf die Situation in Gaza); wird das Boot aufgebracht – Sieg im „Meinungskrieg“. Es sollte aber allen klar sein, dass es in der gegenwärtigen Situation nicht mehr um Sieg oder Niederlage geht. Es gibt einfach keinen Gewinner mehr. Die Menschen in Gaza haben nun jedenfalls nicht mehr zu essen als zuvor. Eine Subebene: In Berichten wird kolportiert, Menschen auf den Booten hätten antisemitische Parolen skandiert und die Auslöschung Israels gefordert. Auf dem gleichen Boot befanden sich wohl auch Abgeordnete der Linkspartei. Adi fragt sich in seinem Blog, ob das der Haltung der Linkspartei entspricht (hier bei Adi nachlesen).

Eine weitere Schicht ist das Vorgehen der Marine: Hier ist es zur Bewertung ja nicht ganz unerheblich zu ermitteln, wer den Schusswechsel begann. Tragisch genug: Es sind Menschen gestorben. Grossman:

No explanation can justify or whitewash the crime that was committed, and no excuse can explain away the stupid actions of the government and the army. Israel did not send its soldiers to kill civilians in cold blood; this is the last thing it wanted. Yet, a small Turkish organisation, fanatical in its religious views and radically hostile to Israel, recruited to its cause several hundred seekers of peace and justice, and managed to lure Israel into a trap, because it knew how Israel would react, knew how Israel is destined and compelled, like a puppet on a string, to react the way it did. auch von hier

Dann stolpere ich über die Frage, wann die türkische Regierung plötzlich ihr Herz für die Bevölkerung Gazas entdeckt hat? Das mag polemisch klingen, aber dass ist jetzt doch überraschend. Und: Warum macht sich die Türkei das Anliegen der islamistischen IHH zu eigen? Das fügt eine ganz neue Ebene hinzu.

Dann haben wir noch eine Schicht - eine die Auswirkungen auf unser Leben in der Galut hat: Die Nutzung des Vorfalls um Antisemitismus zu schüren und antizionistische Agenden nach vorne zu bringen. Das hat dann auch nichts mehr mit den Menschen in Gaza zu tun. Die haben nichts davon, wenn deutsche Juden Hassmails bekommen oder auf der Straße angespuckt werden. Die haben auch nichts davon, dass Muslime und Juden hierzulande nicht mehr miteinander sprechen, weil sich beide in abgesteckten Diskursen bewegen und den anderen plötzlich als Gegner betrachten. Wie es soll es da weitergehen?

In den Blogs und Diskussionsforen gibt es jedenfalls zwei Hauptmuster - behaupte ich einfach mal: Partei A Palästinenser = Gut (immer) Israelis = Böse; wahlweise auch: Juden = Böse

auf der anderen Seite soll nicht das folgende Muster verschwiegen werden: Partei B Palästinenser = Böse Israelis = Spitze (immer)

Eine Variante in der Diskussion zwischen Partei A und B ist es , sich jeweils als Opfer der Gegenseite zu zeigen, oder auszuweisen. Entdeckt man dieses Muster beim Gegenüber, fliegen die Fetzen erst richtig. Natürlich deckt man die Inanspruchnahme des Opferstatus auf und weist das empört zurück.

Gegen dieses Muster werden alle Handlungen der anderen Seite abgeprüft. Dabei ist es ganz egal, wie das Gegenüber sich verhält, es wird jeweils zu Ungunsten ausgelegt. Polemisch ausgedrückt: Wenn die Bewohner Gazas allesamt nach Ägypten ausreisen und das Land Israel zur Verfügung stellen, wird ihnen von Partei B unterstellt sie bereiteten entweder einen Hinterhalt vor, oder sie überlassen jetzt das abgewirtschaftete Land den Israelis, damit sie die Arbeit damit haben. Auf der anderen Seite: Öffnete Israel alle Grenzen und würde Blumen verteilen, gäbe es in Partei A Menschen die behaupteten, die bösen Zionisten hätten einen gemeinen Plan und wollten die leer werdenden Wohnungen in Gaza mit Siedlern belegen. Außerdem wollten sie mit den Blumen bei den Kindern nur Allergien auslösen, damit sie von den Medikamenten der Zionisten abhängig sind.

Artikel und Äußerungen beider Varianten gibt es tonnenweise im Internet. Das führt bei den Diskussionsteilnehmern zu enormen Pulsbeschleunigungen – aber ansonsten zu nichts. Beide Schemata sind Blödsinn. Der Schlüssel (meiner Meinung nach): Wer keine Empathie für die jeweils andere Seite hat, der will auch gar nicht, dass sich etwas ändert. Empathie vermeidet(!) man am besten durch abwertende Kommentare oder durch Diskreditieren des Gegenübers. Wer Empathie hätte, würde Pros und Contras abwägen, sehen, wo Konflikte vermieden werden könnten, statt sie zu schüren. Wichtig ist auch unbedingt, Stimmen die zur Vernunft aufrufen ebenfalls irgendwie zu diskreditieren oder der jeweils anderen Partei beizuordnen. Manchmal gehen diese Stimmen im Geschrei auch einfach unter. Es ist selbstverständlich, dass die Argumente des Gegenübers Blödsinn sind. Im Augenblick sind vielleicht die meisten Beteiligten, eine puppet on a string, wie Grossman das nennt. Das sollten wir uns vergegenwärtigen.