Die nackten Zahlen – aufbereitet

Wie es um die Renaissance des Judentums in Deutschland bestellt ist, war hier kürzlich mit Bezug auf Julius Schoeps Thema. Es lohnt sich aber auch, die nackten Zahlen zur Situation des Judentums bzw. der organisierten jüdischen Gemeinden zu betrachten. Die ZWST hat diese Zahlen für das Jahr 2008 dokumentiert. Die Zahlen habe ich dementsprechend ein wenig aufgearbeitet und visualisiert.
Ablesbar ist, dass der Abwärtstrend bereits eingesetzt hat:
mitglieder

Verknüpft mit der Anzahl der Einwanderer aus der jüdischen Einwanderung ergibt sich eine große Differenz:

Differenz Zuwanderung - Gemeindemitgliedschaft

Die Alterspyramide:
Die Alterspyramide

Von Chajm

Chajm Guski ist nicht nur Autor dieses Blogs und Bewohner des Ruhrgebiets, sondern auch Herausgeber von talmud.de und Organisator des Minchah-Schiurs im Ruhrgebiet. Einige seiner Artikel gibt es nicht nur im Internet, sondern beispielsweise auch in der Jüdischen Allgemeinen. Über die Kontaktseite kann man Chajm eine Nachricht senden. Man kann/soll Chajm auch bei twitter folgen: @chajmke. Chajms Buch »Badatz!« 44 Geschichten, 44 zu tiefe Einblicke in den jüdischen Alltag, gibt es im Buchhandel und bei amazon. Sein Buch »Tzipporim: Judentum und Social Media« behandelt den jüdischen Umgang mit den sozialen Medien. || Um per Mail über neue Beiträge informiert zu werden, bitte hier klicken

26 Kommentare

  1. @Chajm:
    A grojssn Schkojach fürs Ausgraben und Aufbereiten!
    Wo/wie hast Du das gefunden? Weder über die Homepage noch über google konnte ich es ersuchen.

    Einige vorläufige Beobachtungen:
    – Die umgekehrte Alterspyramide ist geradezu furchteinflößend. “Gestern noch standen wir vor dem Abgrund. Aber heute schon sind wir einen grossen Schritt weiter.” GsD muss die organisierte jüdische Gemeinschaft für ihre Senioren nicht aus eigener Kraft aufkommen.
    – Bis 30 gibt es einen Männerüberschuss von 3-5% pro Dekade, ab dann einen Frauenüberschuss von jeweils über 12% pro Dekade. Hat jemand eine Idee, wie das kommt?
    – Die Zahl der Austritte allein ist deutlich höher als die Zahl der Geburten!
    – In Berlin gibt es anscheinend eine Gerim-Fabrik
    – Die Zahl der “Abgänge in andere Gemeinden” ist größer als die Zahl der “Zugänge aus anderen Gemeinden”. Soll wohl heissen, der ZR verliert netto an Nicht-ZR-Gemeinden.
    – Nicht alle Mitgliedsorganisation sind gleich sorgfältig mit der Zahlenlieferung.
    – Ich glaube, allein bei Lauder gibt es pro Jahr mehr Geburten als in der offiziellen Berliner Gemeinde.

    Hat jemand eine Idee, was “sonstige” Zu-/Abgänge bedeuten?

    YM

  2. @Konstantin:
    Danke für den Tip. Interessant! Aber der Artikel ist nicht “von” Schoeps. Eher über einen Vorschlag von ihm.

    Da wundert man sich natürlich, warum diese Überlegungen erst jetzt auftauchen. Den Verantwortlichen müssen die Zahlen ja schon seit Jahren bekannt gewesen sein, die Situation von daher auch ganz ohne prophetische Gabe leicht vorhersehbar.

    Besonders interessant finde ich den letzten Absatz. Man darf also noch die leise Hoffnung pflegen, dass einige irgendwann aus der Versenkung auftauchen und die Türen der Gemeinden klopfen…

    Gute Nacht

    YM

  3. @Yankel Danke für den Dank 😉

    – Die Zahl der Abgänge in andere Gemeinden ist größer als die Zahl der Zugänge aus anderen Gemeinden. Soll wohl heissen, der ZR verliert netto an Nicht-ZR-Gemeinden.

    Das ist mir auch aufgefallen. Ich denke nicht, dass Nicht-ZR Gemeinden davon profitieren. Vielmehr denke ich, dass sich Menschen bei einem Umzug abmelden, aber nicht wieder bei der Gemeinde an ihrem neuen Ort anmelden.

    Sonstige Zu- und Abgänge: Alles was nicht in die anderen Kategorien passt.
    Sonstige Zugänge könnten Menschen sein, die schon länger vor Ort wohnen und dann doch Mitglied der Gemeinde werden. Sie sind nicht hinzugezogen.
    Sonstige Abgänge könnten auch Mitglieder sein, die von der Gemeindemitgliedschaft ausgeschlossen wurden (??)… oder sonst irgendwie ihre Mitgliedschaft beendet haben, ohne ausgetreten zu sein.
    Dieser Trend wird sich verstärken. Oben sterben die Leute weg, unten treten diejenigen, die wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen aus den Gemeinden aus, weil sie mit den Strukturen wenig anfangen können.

    Durch die Aufnahme der liberalen Landesverbände wurde der Abwärtstrend markant gedrosselt. Sie sind erst 2006 (meine ich) hinzugekommen. Ohne die Verbände lägen wir bei 104.397 Gemeindemitgliedern.

  4. @ Yankel

    – Bis 30 gibt es einen Männerüberschuss von 3-5% pro Dekade, ab dann einen Frauenüberschuss von jeweils über 12% pro Dekade. Hat jemand eine Idee, wie das kommt?

    Ich vermute, dass die Männer über 30 sich nichtjüdische Frauen suchen und somit aus der Gemeinde austreten, wieso es unter 30 so ist ist mir auch nicht klar.

    – In Berlin gibt es anscheinend eine Gerim-Fabrik

    LOL, LOL, LOL – ich denke mir meinen sehr bösen Kommentar dazu!!!

    Nochmal zu den männer/frauen verhältnissen. Ich war bei Limmud schockiert, als ich merkte, dass es kaum männer unter 35 gab, und wenn waren die schon mit Familien da – dem gegenüber waren ziemlich viele Frauen in dem Alter. Mein speed-dating projekt konnte ich aus Mangel an Männern nicht durchziehen.

  5. ich würde mich dem kommentator aus dem jüdischen berlin blog anschließen, der die vermutung äußert, daß viele nicht gemeindemitglieder werden, weil die jüdische gemeinde berlin nicht viel von bildung hält. aber noch hinzufügen, daß eine gemeinde nicht nur die repräsentanten ist, sondern auch ihre wähler. und da sehe ich auch nicht viel bedürfnis nach bildung. vielleicht ist es darum so verteilt: in der jüdischen gemeinde versammeln sich diejenigen, für die eine jüdische bildung nicht das maß aller dinge ist, und außerhalb tun sich die zusammen, die ohne bildung keine zukunft für sich und ihre kinder sehen und für die es ein tiefes bedürfnis ist. wie tief, ist sicherlich verschieden. dann ist es ja doch prima verteilt. schade nur, daß denen außerhalb die gelder nicht zufließen, mit denen die gemeinde so flott umgeht. man kann vielleicht dennoch sagen: ein glück gibts heute alternativen zu grenzenloser selbstzufriedenheit und lethargie.

  6. Yankel Moishe: “In Berlin gibt es anscheinend eine Gerim-Fabrik”

    Wo denn? Bzw., woher wollen/wissen Sie das? Eine orthodoxe oder liberale Fabrik?

    Pal: “LOL, LOL, LOL ich denke mir meinen sehr bösen Kommentar dazu!!!”

    Lol, Lol, Lol, wer hätte das nicht gedacht? 😀

  7. @Schulamith Ich würde behaupten, Yankel hat sich die verlinkte Statistik angeschaut. 28 von 45 Personen insgesamt (2008) sind in Berlin übergetreten… bzw. haben sich mit einem Übertritt in der Gemeinde angemeldet. Das muss tatsächlich nicht zwangsläufig bedeuten, die Übertritte fanden dort statt.

  8. “Das muss tatsächlich nicht zwangsläufig bedeuten, die Übertritte fanden dort statt.”

    Genau. Deswegen kann oder sollte man nicht daraus schließen in Berlin gebe es eine “Fabrik”. Orthodoxe Giurim in Berlin sind immer noch sehr selten, von den liberalen weiß ich es nicht.
    Unabhängig davon: was soll an Gerim eigentlich so schlimm sein (für manchen wohl, wenn man die gedachten Kommentare liest)?

  9. @Tom:
    Mir ist auch unklar, wozu eine Gemeinde mit 10.794 (31.12.2008, siehe oben verlinktes ZWSt-Dokument) Mitgliedern rund 400 bezahlte Angestellte braucht (1:27!). In meiner Gemeinde gibt es 300 teilweise recht kinderreiche Familien. Die Angestellten sind der Rabbiner und der Hausmeister. Alles andere ist Ehrenamt. Schulen, Chevra-Kadischa, Restaurants, Alterheime sind alles eigenständige Organisationen, mit separatem Haushalt und eigener Buchführung.

    Muss man eigentlich darauf warten, bis der Zentralrat von sich aus das “amerikanische Modell” einführt? Wäre es nicht denkbar, wenn die interessierten Nicht-Mitglieder die Summe, die sonst an Kultus-/Synagogensteuer fällig wäre, nutzen würden, was eigenes auf die Beine zu stellen? (Friedhof ist allerdings ein nicht-triviales Problem.)

    @Schulamith:
    An (ernsthaften) Gerim ist gar nichts schlimm. Im Gegenteil. In der Tat bezog ich mich auf die ZWSt-Statistik. So wie ich die Zahl interpretiere, sagt sie per se natürlich nichts darüber aus, wo der Gijur stattgefunden hat. Sondern nur, dass die Gerim danach in Berlin Mitglieder geworden sind. Ob die “Fabrik” orthodox oder liberal ist, weiß ich nicht. Es hieß ja kürzlich, es gebe kein Beth Din in Deutschland. Von daher ist mir unklar, wie das zusammenpasst.

    @Konstantin:
    Bitte wenig böse formuliert: Hast Du denn für die Zahl eine plausible Erklärung?

    YM

  10. “Es hieß ja kürzlich, es gebe kein Beth Din in Deutschland. Von daher ist mir unklar, wie das zusammenpasst.”

    Das ist noch nicht lange so. Die ORD macht wohl keine Übertritte mehr.
    Aber viele werden nach London etc. geschickt.

  11. @Schulamith:
    Danke für die Aufklärung. Übrigens hat es das London Beth Din AFAIK früher grundsätzlich abgelehnt, Personen mit Wohnsitz außerhalb von UK überhaupt nur anzuschauen. Hast Du eine Ahnung, warum weit überproportional mehr Leute aus Berlin geschickt werden als von anderswo?

    @All:
    Ich habe übrigens kürzlich von einer Praxis gehört, auch nichtjüdische Familienangehörige als Mitglieder in einer separaten Kategorie in die Gemeinde aufzunehmen, um für Zwecke der staatlichen Untersützung (die pro Kopf berechnet wird) die Statistik aufzuplustern. Kann das jemand bestätigen? Jetzt frage ich mich, wie verbreitet das ist, und wie die ZWSt-Zahlen aus dieser Perspektive zu bewerten sind.

    YM

  12. “Hast Du eine Ahnung, warum weit überproportional mehr Leute aus Berlin geschickt werden als von anderswo?”

    Das weiß ich nicht. Aber nicht alle kommen aus Berlin. Auch aus anderen Städten kommen einige nach London. Die orthodoxen Übertritte sind nicht mehr geworden als früher. Zu Bedenken wäre eher, daß es sich auch um liberale Übertritte handeln könnte oder daß es sich um zugezogene Gerim handelt.

  13. @Schulamith:
    Danke für Deine rasche Reaktion,
    Von “allen” war ja nicht die Rede. Nochmal: Laut ZWSt-Statistik sind 28 von 45 (62%) in Deutschland als Gerim neu aufgenommene Personen Mitglieder in Berlin geworden, aber nur rund 10% der organisierten Juden leben in Berlin. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Gerim bereits vorher in Berlin waren bzw der Prozess in Berlin betreut wurde. Wenn ein Ger vor Berlin schon in einer Gemeinde Mitglied war, so würde er doch nach einem Umzug nach Berlin vermutlich nicht als neuer Ger in der ZWSt-Statistik auftauchen.
    Darüber, ob die Übertritte orthodox oder liberal sind, habe ich keinerlei Vermutung gehabt.

    Grüße

    YM

  14. @ Yankel

    ich habs so verstanden, dass die Statistik deb Ort des Geschehens meint, aber es geht dann um aufnehmende Gemeinden. Vielleicht spielen hier noch andere nicht ARK Gijurim eine Rolle, European Beit Din in London gibt ja auch Leute die dort übertreten und vielleicht in Berlin leben.

  15. Die Zukunft der Juden in Deutschland kann man sich ja leicht ausrechnen: Etwa 20.000 reproduktionsfähige Jüdinnen zwischen 0-40 gibt es laut der Statistik. Bedenkt man, dass Deutschland eine der niedrigsten Geburtsziffern der Welt hat und in Russland wiederum die Juden die Nationalität mit der mit Abstand geringsten Geburtenziffer sind, dann dürfte man kaum mehr als 1,3 Kinder pro Jüdin erwarten können, macht also ca. 25.000 in der nächsten Generation. Natürlich heiraten die meisten Jüdinnen hierzulande Nicht-Juden und legen keinen gesteigerten Wert auf eine traditionelle Lebensführung, so daß dann auch die zumindest halachisch noch jüdischen Kinder ganz selbstverständlich Nicht-Juden heiraten und auf den ganzen Krempel pfeifen. Fromme, die mit ihrem religiösen und demographischen Engagement dagegenhalten könnten, gibt es praktisch nicht. Dazu kommt noch die Abwanderung.
    Alles in allem kann man also davon ausgehen, dass die Zahl der Juden in Deutschland in zwei Generationen stark auf 0 hin tendiert.

    Die einzige Hoffnung für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist, dass Israel ein paar Atombomben reingedrückt bekommt und daraufhin Hunderttausende von Flüchtlingen eine strahlungsärmere Wohngegend suchen 🙂

  16. @Felix:
    Endlich mal wieder ein Beitrag nicht zum Nebenaspekt Gijur.
    Respekt. Sehr clever, auf den Aspekt mit der Reproduktionsrate und der Zahl der weiblichen Personen um reproduktiven Alter bin ich noch gar nicht gekommen.
    Um mal Deiner Schwarzmalerei, chas weschalom, zu folgen: Wenn die Flüchtlinge erst nach dem Ereignis kommen, dürften ihre Reproduktionsorgane und Gene aber so stark in Mitleidenschaft gezogen sein, dass es mit deren Reproduktionsfähigkeit auch nicht mehr weit her ist. Siehe Hiroshima und Nagasaki. 🙁

    Gut Schabbes, gut chodesch und einen inspirierenden Elul.

    YM

  17. @Felix:
    Nach nochmaligem Nachdenken/Nachrechnen bist Du wohl noch ein radikaler Optimist. Denn wenn rund 12.000 Frauen im fruchtbaren Alter in einem rund Jahr 170 Kinder gebären, dann gibt es über 20 Jahre (grob die fruchtbare Phase) rund 3.500 Kinder. Das wäre eine Quote näher bei 0.3 als bei Deinen 1.3…

    Ich hoffe, ich habe mich nicht verrechnet/verdacht…

    YM

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