Hinter der heraufbeschworenen Renaissance jüdischen Lebens steht ein großer Wunsch, aber wenig Substanz. Das war in diesem Blog häufiger zu lesen und noch häufiger diskutiert. RP-Online betrachtet die nüchternen Zahlen. Nach dem Wachstum geht es nun rapide abwärts. Einige Gemeinden steuern gegen, andere sind mit Selbstorganisation beschäftigt oder wollen die Situation nicht erkennen. Vor allem werden sich einige jüdische Zentren bilden (müssen), in denen Kräfte gebündelt werden.
Noch sprechen die Zahlen gegen den prognostizierten Abwärtstrend. Denn mit den Juden aus dem Osten stieg die Zahl der Gemeindemitglieder hierzulande von 28 000 vor der deutschen Wiedervereinigung auf derzeit knapp 107 000. Die Zahl ist trügerisch, weil sie eine Vitalität und Dynamik vermittelt, die allein auf der Zuwanderung, nicht aber aus sich heraus begründet ist. Und sie verdeckt eine Entwicklung, die bereits mächtig in Gang gesetzt ist: mit der dramatischen Überalterung der jüdischen Gemeinden in Deutschland und einer extrem hohen Zahl an Mischehen. von hier
Realistisch auch diese Einschätzung:
Und in Deutschland? Nach Julius Schoeps könnte es von derzeit 104 jüdischen Gemeinden in knapp 30 Jahren zwei Drittel nicht mehr geben. Jede Gemeinde mit weniger als derzeit 4000 Mitgliedern wird auf längere Sicht ohne Überlebenschance sein, so der Wissenschaftler, sollten die gesellschaftlichen Entwicklungen in gleicher Weise fortschreiten. auch von hier
Nun es bedarf wohl auch an jüdischen Einrichtungen. Was weiß ich Synagogen, Schulen, theologische Lehrstühle usw.
Ich glaube, nur dann wird sich das jüdische Denken wieder richtig entfalten. Wie siehst du das?
Das scheint mir partiell unehrlich. Es erklärt nämlich sicher nicht, warum bereits vor der Shoa die Mischehenquote im europäischen, speziell im deutschen Judentum im kontinuierlichen Steigen begriffen war (mit meßbaren demographischen Konsequenzen, siehe “Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden”, digital verfügbar hier), und warum die deutschen Juden im 19. Jahrhundert in Massen zu den Taufbecken strömten. Das scheint doch eher einer eine Konsequenz gewisser Prozesse zu sein, die mit dem Namensgeber des Instituts , dem Prof. Julius Schoeps vorsitzt, in Verbindung zu bringen sind.
(Anmerkung: Es wurde ja sogar gelegentlich vor der Shoa vorhergesagt, dass diese Prozesse in eine Katastrophe für das europäische Judentum münden würden. Und auch nach der Shoa wurden diese Prozesse von diesen Kreisen als Begründung für die Katastrophe vorgebracht.)
Weiter unten im Artikel heißt es passend dazu – wie mir scheint, im Widerspruch zum Zitat oben:
Dazu paßt, die die Gruppen innerhalb des Judentums, die weiterhin eine “sozio-kulturelle Abgrenzung” pflegen, seit Jahrzehnten von diesem negativen demographischen Trend in dieser Form nicht betroffen sind, im Gegenteil.
Korrekter könnte man sagen, dass sowohl die Shoa als auch der damalige Assimilationsdrang beide ihre Ursache im Antisemitismus hatten. Heutzutage ist es allerdings deutlich leichter, praktiziertes Judentum mit beruflichem Erfolg zu verbinden, von daher reicht es heute wohl nicht mehr so ganz, die demographische Entwicklung auf antijüdische Diskriminierung zurückzuführen. Es ist wohl auch eine gehörige Portion Ignoranz und Gleichgültigkeit dabei.
YM
Mir ist unklar, was man bei alledem eigentlich erreichen will. Die überwiegende Mehrheit unter denjenigen, die – immerhin – Gemeindemitglieder sind, ist nicht (oder nicht vornehmlich) religiös motiviert. Selbst in Berlin, dessen Gemeinde ja 12-13 Tausend Mitglieder zählt, erscheinen in den Synagogen wöchentlich nicht mehr als insgesamt 600-700 Teilnehmer (und das ist eine bewusst “großzügige” Schätzung).
Wenn man also das Religiöse mal außen vor lässt, bleibt man mit der Frage: Was kann man hierzulande von einer jüdischen Gemeinde erwarten und dann tatsächlich bekommen? Meines Erachtens nicht viel, aber das ist hier, wie du ja selber geschrieben hast, schon mehrmals besprochen worden.
@Serdar Ich denke nicht, dass wir ein Zuwenig an Einrichtungen haben. Es fehlt mehr am Unterbau dafür. Man benötigt keine Synagogen, wenn es niemanden gibt, der sie besucht. Die Gemengelage ist unübersichtlich, weil hier viele Faktoren zusammen kommen. Zum spielt Religion für die meisten jungen Leute keine Rolle. Um dies zu ändern, müsste man Outreachprogramme für junge Leute und junge Familien (der Schlüssel sind meiner Meinung nach junge Familien) anbieten. Das ist in der Vergangenheit nicht so sehr häufig passiert…
Es gibt Jugendzentren für Schüler und Programme für Senioren. Auf Eltern, deren Kinder die Gemeindeprogramme nutzen, hat man immerhin indirekten Zugriff.
Aber für die entscheidende Altersgruppe der Singles/Studenten wird zu wenig gemacht. Und das ist die Gruppe, die zu entscheiden hat, ob sie eine jüdische Familie gründen wird oder nicht. Klar gibt es jüdische Studentenorganisationen. Aber wie gut die funktionieren, hängt doch sehr vom Engagement des gewählten Vorstands ab. Es fehlen professionelle Stukturen – und die Bereitschaft, sie zu finanzieren.
YM
Anscheinend basiert der oben zitierte RP-Artikel auf diesem Vortrag von Prof. Schoeps:
http://dbk.de/imperia/md/content/pressemitteilungen/2009-2/european_jewry_eroeffnungsvortrag_jhs_2.pdf
Interessant: Das war eine Veranstaltung der Deutschen Bischofskonferenz….
YM
@Chajm
Religion ist zwar immer Thema in der Gesellschaft, aber was passiert, wenn das Religiöse, die Frömmigkeit zurückgedrängt wird, sehen wir ja langsam.
Religiösität wird in dieser Gesellschaft leider als etwas negatives gesehen. Fromme Muslime sind immer schon der Hinweis auf Desintegration, weil gewisse Kreise in der Öffentlichkeit eine Vorstellung davon haben wie Menschen gefälligst zu leben haben. Die Pluralität an Way of Lifes gibt es hier leider nicht, da sind uns die USA vorraus.
Ich denke das Judentum hat es da noch schwieriger in Deutschland. Vielleicht solltet ihr es mal mit Mystik versuchen! Das spricht die Emotionen an und in turbulenten Zeiten wie dieser, wo Menschen ohne Halt und in existentieller Heimatlosigkeit sich immer mehr atomisieren wäre die Mystik vielleicht ein Hafen.
Kurzum: Strukturen sind wichtig, aber Inhalte und deren Vermittlung sind noch wichtiger! Meine Meinung.
Wenn ein Mensch nicht einmal ansatzweise die Sprache des Landes sprechen kann und jeglichen Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft meidet, ist er nicht integriert.
Das bezieht sich nicht konkret auf Muslime, sondern sollte deinen Gedanken einfach mal allgemein aufgreifen.
@RonYitzchak Wo ist da der Zusammenhang zu dem, was Serdar schrieb? Wir reden über Juden und Muslime, nicht über Einwanderung und schlecht integrierte Muslime. Wobei ich schmunzeln muss, weil Du religiös mit schlecht integriert gleichsetzt (offenbar) und damit zeigst, wo das Problem liegt…
@Yankel: Das ist ja gut herausgefunden! Vielen Dank! Daraus kann man gleich wieder einen Extrabeitrag machen 😉
Warum setzte ich religiös und schlecht integriert zusammen?
Abgrenzung von der Bevölkerung und Unkenntnis der Sprache bezeichnete ich als schlecht integriert.
Warum ich das geschrieben habe?! Serdar sprach davon, was die Bevölkerung als schlecht integriert auffasst. Daher schrieb ich, was ich darunter verstehe.
@RonYitzchak Ah, Ok, wegen des Hinweises auf Desintegration. Dann habe ich Dich falsch verstanden und den Zusammenhang falsch hergestellt…
@Serdar:
“Mystik” kann ein zweischneidiges Schwert sein. Wenn man es falsch angeht, kommt sowas raus: https://www.sprachkasse.de/blog/2009/08/05/kohenet/
@Chajm:
War ein “Zufalls”-fund. Bin jedenfalls gespannt auf Deinen Beitrag.
YM
@ YM: Auch meinerseits Dankeschön für den Fund
@Yankel Moishe
Wie ist eigentlich das Verhältniss zwischen Mystik (wenn man das so nennen kann) und der Orthodoxie (auch nicht korrekt, aber griffiger zu formulieren)?
In Islam gab es lange Zeit sehr große Reibungen zwischen der Orthodoxie (!) und der Mystik, um es diplomatisch auszudrücken. Erst mit Ghazali ( islamsiche Gegenstück zu Yehuda Halevi) hat sich das geändert.
@Serdar:
Die gut-jüdische Antwort ist: “es kommt drauf an” 😉
Hier eine stark verkürzte Darstellung.
– Die heute in den Hintergrund gedrängte deutsche Orthodoxie hatte ein eher
distanziertes Verhältnis zu esoterischen Quellen. Das ging so weit, dass im bekannten Rödelheimer Siddur/Gebetbuch Gebete aus diesen Quellen teilweise entfernt wurden.
– Der Chassidismus zeichnete sich ursprünglich dadurch aus, dass er kabbalistische Lehren, die bis dahin eingeweihten Gelehrtenkreisen vorbehalten waren, auf Kosten klassischer Gelehrsamkeit stark popularisierte.
– Das litwische/litauische Judentum sah die chassidische Bewegung ursprünglich unter anderem aus diesem Grund kritisch.
– Über die Position der Modernen Orthodoxie dazu bin ich mir nicht im klaren.
– Im sefardischen/orientalischen Judentum nahmen diese Dinge schon lange einen zentraleren Platz ein.
Mittlerweile sind diese Differenzen aber weitgehend überbrückt. Auch litwische Rabbiner zitieren heute in Lehrvorträgen kabbalistische Quellen, ohne mit der Wimper zu zucken. Umgekehrt wird auch in chassidischen Kreisen heute ganz klassisch Talmud gelernt.
Ursprünglich heißt es, Kabbalah sei verheirateten Männern über 40 vorbehalten. Das wird heute aber nicht unbedingt so praktiziert. Gerade im “Outreach” wird offensiver damit umgegangen, denn offenbar sind diese Dinge in der heutigen Welt attraktiv.
Leider wird heutzugage auch viel kommerzialisierter Schindluder mit angeblicher jüdischer Esoterik/Kabbalah getrieben. Prominentes Beispiel: “Madonna”. Nicht überall wo jüdische Mystik drauf steht, ist auch jüdische Mystik drin.
YM
Habe noch was IMHO hochinteressantes zum Thema gefunden.
Eine – im wahrsten Sinne des Wortes – ausgezeichnete Dissertation.
http://www.waxmann.com/index2.html?kat/1763.html
http://books.google.co.uk/books?id=3iDvKMvQhuQC
YM
@ YM
Das ist vielleicht eine ausgezeichnete Dissertation, aber:
>Die Autorin kann eindrucksvoll nachweisen, “dass es nicht angemessen ist, jüdische Religion mit orthodoxer Religion gleichzusetzen, sondern dass sich Individualisierungstendenzen unter jüdischen Jugendlichen erkennen lassen. […] Eindimensionale Bilder von Juden und Judentum sollten deshalb aufgebrochen werden”<
Bedarf es wirklich einer Dissertation, um so etwas zu "entdecken" und sogar "nachzuweisen"?
@Yoav:
Diese Rezension war mir auch als dümmlich aufgefallen. Mir ist auch nur partiell klar, was sie mit dem Buch an sich zu tun hat. Mir scheint, da hatte jemand eine Agenda.
YM
@Yankel Derzeit schaue ich mir viele viele Zahlen an. Einige Statistiken widersprechen sich auf amüsante Weise. Da habe ich zum einen eine Zahl von 60.000 Juden in Deutschland für das Jahr 1995, wenn ich dann eine Statistik der Neuaufnahmen bis 1995 dazuhole und die abziehe von den 60.000, dann erhalte ich eine negative Zahl. Demnach fehlten 1990 in Deutschland rund 10.000 Juden…
@Chajm:
Meine Vermutung: Das eine sind Gemeindemitglieder, das andere erfolgreiche Anträge von “Kontingentflüchtlingen”. Bekanntlich wird längst nicht jeder von ihnen Gemeindemitglied.
YM