Der Zeit wird monatlich das evangelische Magazin Chrismon beigelegt. Wenn ich das Konzept richtig verstanden habe, handelt es sich hierbei um eine „light“ Version einer umfangreicheren Ausgabe. In der Regel blättere ich auch dieses Magazin durch und entdecke recht oft Artikel von Interesse. So schrieb Maxim Biller über eines der Asseret ha Dibrot (über die üble Nachrede ). In der aktuellen Ausgabe, die eigentlich und natürlich ihren Focus auf dem Thema Weihnachten hat, fiel mir die Kolumne des Herausgebers Hermann Gröhe auf. Hermann Gröhe ist aber auch Staatsminister im Bundeskanzleramt und Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Neuss und im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er ist also kein reiner Publizist, sondern in erster Linie Jurist und Politiker. Er beobachtet also nicht nur die politische Landschaft, sondern hat auch die Möglichkeit, diese mitzugestalten. Meine Aufmerksamkeit erregte Gröhes Kolumne weil sie mit „Jüdisches Leben schlägt wieder Wurzeln in Deutschland, die Gemeinden wachsen. Es gilt, diesen Schatz sorgsam zu hüten“ überschrieben war. Das lässt natürlich eine gewisse Erwartungshaltung entstehen. Man erwartet eine Betrachtung über das jüdische Leben in Deutschland und über dessen Zukunftsaussichten. Wie kann die Gesellschaft dazu beitragen, dass jüdisches Leben wächst? Ganz so ist es nicht. Die ersten zwei Drittel beschäftigen sich mit der Schoah und Antisemitismus. Im Anschluss daran kurz ein Hinweis darauf, dass heute viel passiere um die Erinnerung wach zu halten.

Vieles geschieht schon heute. Unweit der niedergebrannten Synagoge von Neuss steht heute eine Skulptur von Ulrich Rückriem. Schülerinnen und Schüler wechselnder Schulen gestalten die jährliche Gedenkfeier mit, schildern dabei ihre Versuche, sich der Geschichte zu nähern, um aus ihr lernen zu können. von hier

Im letzten Drittel erst geht es kurz und knapp um jüdisches „Leben“ in Deutschland:

Jüdisches Leben schlägt wieder Wurzeln: Die Gemeinden wachsen, Synagogen werden eingeweiht, endlich wieder Rabbiner ordiniert. 2007 erwarb die Jüdische Gemeinde Düsseldorf einen früheren Kindergarten in Neuss, dort entsteht nun ein Gemeindezentrum. Gemeinsam konnten wir das jüdische Lichterfest feiern. Vor allem Juden aus dem Bereich der früheren Sowjetunion haben die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zur drittgrößten in Europa wachsen lassen. Ganz besonders verdankt sich dieses Wiedererstehen jüdischen Lebens in Deutschland der bewundernswerten Haltung jener Überlebenden des Holocaust, die die Größe besaßen, gegen alle Tränen und Zweifel in ihrer Heimat zu bleiben. auch von hier

Angesichts dessen, dass 2000 Zeichen für die Schilderung der Schoah verwendet wurden, ist dieser Blick auf das Judentum in Deutschland doch recht knapp geraten. Ausgedrückt werden soll wahrscheinlich, dass sich etwas tut und dass etwas passiert. Nun hätte ich erwartet, dass man mir sagt, wie man diesen „Schatz hütet“. Aber es geht zurück:

Ganz besonders verdankt sich dieses Wiedererstehen jüdischen Lebens in Deutschland der bewundernswerten Haltung jener Überlebenden des Holocaust, die die Größe besaßen, gegen alle Tränen und Zweifel in ihrer Heimat zu bleiben. Ihre Bereitschaft, diesem Land ein neue Chance zu geben, trug wesentlich zur Rückkehr Deutschlands in die Gemeinschaft zivilisierter Völker bei. Nicht aus Dank dafür oder aus Schuldgefühl sollten wir unsere Stimme gegen den Antisemitismus erheben. Wir sind es der Würde aller Menschen und damit auch uns selbst schuldig. von hier

Und damit endet die Kolumne auch. Tatsächlich ist die Charakterisierung nicht ganz richtig, denn die Gemeinden wurden ja in der Hauptsache nicht durch die „Rückkehrer“ getragen, sondern durch die hier gestrandeten „Displaced Persons“ und die Schlussfolgerung ist irritierend: Judentum muss in Deutschland weiter existieren, damit Deutschland beweisen kann, dass es weiterhin zu den zivilisierten Völkern gehört? Der Kampf gegen Antisemitismus ist zwar eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft (und eben nicht der davon Betroffenen), aber man fördert dadurch nicht automatisch jüdisches Leben. Vielleicht ist das der Grund, warum man sich beim Zentralrat der Juden rückversichert, wenn es um scheinbar „heikle“ nationale Themen geht. Dürfen wir Deutsch als Sprache für Deutschland fordern (siehe hier)? Hat also die jüdische Religion keinen Wert an sich, sondern nur als historische Rückversicherung? Wir wären einen Schritt weiter, wenn man die Menschen dahinter entdeckt und beobachtet, dass jüdisches Leben auch ohne diese historische Mission stattfindet. Das Judentum und sein Erhalt ist kein Selbstzweck und die Existenz einer Synagoge in einer Stadt sagt nichts über „jüdisches Leben“ dort aus. Die Infrastrukturen müssen sich observante (ganz gleich ob orthodoxe oder liberale) Juden selber aufbauen und sie tun das auch, vernetzen sich und bauen für sich etwas auf. Das kann natürlich nur in einer Gesellschaft passieren die „offen“ ist, aber dass sie nur deshalb offen ist, um etwas „herzeigen“ zu können, wäre ein echtes Armutszeugnis.