In Gelsenkirchen sprach Dr. Irene Runge vom Jüdischen Kulturverein Berlin, auf Einladung des Jüdischen Kulturvereins Gelsenkirchen Kinor, heute über die Jüdische Einwanderung nach Deutschland (siehe Ankündigung) und um es vorweg zu nehmen: Jüdische Einwanderung heute gibt es de facto nicht mehr, denn die Einwanderung wurde praktisch gestoppt. Wie es überhaupt dazu kam konnte Dr. Irene Runge aus erster Hand berichten, immerhin war sie mit dem Jüdischen Kulturverein in der damaligen DDR an dieser Entscheidung maßgeblich beteiligt und präsentierte auch ein Audio-Dokument, welches dieses Ereignis eindrucksvoll belegte. Ein Mitschnitt einer Sendung des Runden Tischs in der sich auflösenden DDR. An diesem Runden Tisch, der in den letzten Monaten der DDR zentrale Bedeutung hatte, forderte der Jüdische Kulturverein am 9. Februar 1990, die unbürokratische Einreise von jüdischen Bürgern der Sowjetunion zu ermöglichen. Die zündende Grundidee stamme von einem gastierenden orthodoxen Rabbiner, wie Dr. Runge erzählte. Vor dem Szenario antisemitischer Drohungen in der, sich mitten in der Perestrojka befindenden UdSSR, sei es nötig, ihnen eine sichere Anlaufstelle zu bieten. Der Runde Tisch beschloss dies einstimmig (wie auf dem Tondokument zu hören war) und damit auch eine Eingabe an die DDR-Regierung unter Hans Modrow. Noch in der Umsetzungs- und Findungsphase reisten bereits die ersten Juden aus der Sowjetunion ein und durften bleiben. Dieser Beschlusses wurde dann durch die Regierung unter Lothar de Maiziere weiter formalisiert und zum Beginn der jüdischen Einwanderung. Mittlerweile seien 200.000 Menschen mit dem jüdischen Ticket, wie Runge sagte, nach Deutschland gekommen. Dieses Ereignis, welches das Gesicht der deutschen Gemeinden radikal verändert hat, fand also dort am Runden Tisch statt, ohne dass man sich hätte ausmalen können, wie sich die gesamte Geschichte entwickelt. Viele seien Gemeindemitglieder geworden, aber längst nicht alle die hätten es werden können, hätten diesen Schritt auch getan. Anschaulich schilderte sie aber auch, wie sie die Entwicklung weiter beobachtete und später ein Riegel vor die Einwanderung geschoben wurde. Von 108 000 Gemeindemitgliedern im Jahre 2005 waren 98 000 aus den Staaten der GUS eingewandert. In der Organisationsstruktur der Gemeinden und Gemeindeverbände zeige sich dies jedoch nicht. Nahezu alle (überspitzt dargestellt) hätten einen Vertreter der Alteingesessenen als Gemeindevorstand und dementsprechend auch in allen anderen Instanzen wie Landesverband und Zentralrat. Durch die Blume war erkennbar, dass sie sich mehr Initiative wünscht von der Gruppe der eingewanderten Juden. Die anwesenden Vertreter dieser Gruppe waren zum Teil mit großen Hoffnungen angereist und versuchten sich vor allem über die Situation in den Gemeinden Luft zu machen und so gab es auf der einen Seite teilweise die Erwartung nach konkreter Hilfe und auf der anderen Seite den Rat, sich zu engagieren wo dies möglich sei, wenn es sein muss, unter sich in kleinen Gruppen. Unter dem Strich stand die Aufforderung aktiv zu werden. Meine konkrete Nachfrage nach den Zukunftsperspektiven der Einheitsgemeinde, zwischen den sich herauskristallisierenden Strömungen nicht-religiös, liberal, orthodox etc. mit einer großen Anzahl von Gemeindemitgliedern beantwortete Frau Dr. Runge pragmatisch. Einerseits gäbe es nicht überall ausreichend viele Juden für verschiedene Strukturen, andererseits möge sie das amerikanische Modell bei dem man in der Synagoge seiner Wahl Mitglied sei und sich dementsprechend auch an deren Unterhalt beteiligen müsse. Das motiviere die Mitglieder, als auch diejenigen, die das repräsentieren. Meiner Einschätzung nach werden aus dem politischen Gebilde der Einheitsgemeinde in Zukunft kleinere Gemeinschaften hervorgehen, die voll und ganz inhaltlich ausgerichtet sind. Wie wir es heute eben aus den USA kennen. Die Trennung wird der einzige Weg sein, diejenigen Jüdinnen und Juden zurückzugewinnen, die frustriert den Einheitsgemeinden den Rücken zugekehrt haben. In diesen Gemeinschaften werden unterschiedliche Antworten auf die Fragen gefunden werden: Was stellen wir mit den nichtjüdischen Familienangehörigen an? Was ist mit den Einwanderern die halachisch keine Juden sind? Die Einheitsgemeinden, die sich orthodox haben heute keine „einheitlichen” Antworten auf diese Fragen. Nur in diesen inhaltlich ausgerichteten Gemeinden können auch jüdische Werte überzeugend vorleben und vermitteln. Der Mangel besteht noch immer in besonderer Weise, trotz steigender Mitgliedszahlen. Gemeindevorstände werden nicht politische Funktionen erfüllen, sondern aktive Mitglieder und religös motivierte Personen der jeweiligen Strömung sein. Wann dieser Punkt gekommen sein wird, konnte man in etwa den russischsprachigen Konversationen entnehmen. Dort wurde mehr als einmal von der sowjetischen Mentalität der Menschen gesprochen und dass sich diese bis in die Gemeinden bemerkbar mache. Wenn aber das demokratische Instrumentarium ausgepackt wird, dann werden sich Umwälzungen ergeben die sich vermutlich auch in den Strukturen zeigen werden. Interessant war die Abwesenheit von Vertretern der Gemeinden im Ruhrgebiet, wenngleich der Termin auf vielen Kanälen kommuniziert wurde.