Jüdischer Alltag in Deutschland – ungeschönt

Die Mahn- und Versöhnungsreden vom vergangenen Sonntag hallen noch nach, da wird das Echo durch Sergey Lagodinsky geschluckt und die hässlichen Fakten auf den Tisch gepackt.

Kanzlerin Dr. Angela Merkel betonte in ihrem Video-Podcast dass der 9. November ein Tag des Gedenkens sei, der dazu verpflichtet, die Zukunft verantwortlich zu gestalten. Bei den Synagogeneröffnungen, denen ich in der letzten Zeit beiwohnen durfte, wurde häufig betont, wie sicher Deutschland für Juden sei und was für eine Auszeichnung, dass man heute wieder jüdisches Leben in Deutschland sehen könne. Darüber, wie dieses Leben aussieht, gibt es verschiedene – häufig sehr romantisierte (siehe auch hier) – Vorstellungen und da kommt Sergey Lagodinsky ins Spiel. Er versucht zu erklären, wie die Realität aussieht.

Der deutschen Öffentlichkeit ist dieser Alltag weitgehend unbekannt, für die deutsch-jüdischen Funktionäre ist er weitgehend uninteressant und bisweilen etwas peinlich. Seit 1989 hat Deutschland sich neue Juden aus der Sowjetunion geholt und sich seitdem entspannt zurückgelehnt: Sie werden es schon selbst regeln, heißt es in der Politik, die sich auf der Garantie von Hartz IV und sozialer Grundsicherung für Zuwanderer ausruht und die Aufgaben der sozialen Integration an die jüdischen Gemeinden überträgt, die dafür weder qualifiziert noch geschaffen sind. von hier

und weiter heisst es:

Der dritte Widerspruch der heutigen deutsch-jüdischen Existenz ist einer zwischen politischer Rhetorik und ihrer humanitären Relevanz. Bereitwillig nutzt die deutsche Politik die neue jüdische Existenz als Zeichen der eigenen demokratischen Emanzipation. Kaum eine Rede von deutschen Politikern zur deutschen Vergangenheit, aber auch häufig zur deutschen Gegenwart, kommt ohne den Ausdruck der Freude und Dankbarkeit dafür aus, dass es in diesem Lande wieder ein jüdisches Leben gibt. Die abstrakte Existenz jüdischer Gemeinden in Deutschland ist politisch viel wert, die konkrete und würdige Existenzsicherung jüdischer Menschen im Alter scheint da von geringerer Relevanz zu sein. auch von hier

Für einige Gemeindemitglieder vielleicht ein alter Hut – sofern man sich das vergegenwärtigt hat, für viele Romantiker vielleicht ein herber Schlag, für diejenigen die etwas bewegen wollen und können vielleicht ein nachdrücklicher Hinweis darauf, zu handeln. Während sich die Alten an die Gemeinden wenden mit dem Wunsch um Hilfe, emanzipieren sich die Jungen von den Gemeinden (nicht überall, es gibt erfolgreiche Programme gegen diesen Trend) und nehmen so nicht am jüdischen Alltag teil. In kleineren Gemeinden ist dieser Trend noch viel spürbarer.

Von Chajm

Chajm ist nicht nur Autor dieses Blogs und Bewohner des Ruhrgebiets, sondern auch Herausgeber von talmud.de und Organisator des Minchah-Schiurs im Ruhrgebiet. Einige seiner Artikel gibt es nicht nur im Internet, sondern beispielsweise auch in der Jüdischen Allgemeinen. Über die Kontaktseite kann man Chajm eine Nachricht senden. Man kann/soll Chajm auch bei twitter folgen: @chajmke. Chajms Buch »Badatz!« 44 Geschichten, 44 zu tiefe Einblicke in den jüdischen Alltag, gibt es im Buchhandel und bei amazon. Sein Buch »Tzipporim: Judentum und Social Media« behandelt den jüdischen Umgang mit den sozialen Medien. || Um per Mail über neue Beiträge informiert zu werden, bitte hier klicken

Ein Kommentar

  1. Andererseits:
    Dass sich die auch die aelteren “Kontingentfluechtlinge”
    fuer Deutschland (und gegen Israel) entschieden haben,
    soll wohl nicht zuletzt materielle Gruende haben.

    > [Lagodinsky] Das Problem der Alten
    > wird sich in einigen Jahrzehnten von selbst lösen.

    > [Chajm] emanzipieren sich die Jungen von den Gemeinden

    Woraus folgt, dass sich auch das “Problem der Jungen”
    in einigen Jahrzehnten von selbst loesen wird.

    Die armen deutschen Politiker:
    Mit wem wollen sie am 9. November 2038
    der 100. Wiederkehr des Pogroms gedenken?

    YM

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