Im März 2006 veröffentlichten John J. Mearsheimer und Stephen Walt ihren Aufsatz „The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy” (hier). Der hat schon für Wirbel gesorgt, aber nun erschien in diesem Monat die erweiterte Fassung als Buch, sowohl in den USA, als auch in Deutschland. Zusammengefasst soll das Buch wohl folgendes aussagen: Die Nahostpolitik der USA diene nicht ihren eigenen nationalen Interesse (in dem Zusammenhang ist selbstverständlich klar, in wessen Interesse) und fördere deshalb sogar selber den Antiamerikanismus in der arabischen Welt, ach ja, am Irak-Krieg sei diese Lobby letztendlich auch Schuld. Eine amerikanisch-israelische Gruppe bestehend aus Politikern, einflussreichen Denkern, verschiedenen Gruppen und Organisationen und sogar christlicher Evangelikaler sollen aktiv daran arbeiten, die US-Außenpolitik in eine proisraelische Richtung zu steuern bzw. die Richtung beizubehalten. Der Einfluss dieser Lobby sei ungleich größer, als der anderer Interessenverbände, wie zum Beispiel der amerikanisch-kubanischen Lobby. Sie sei in der Lage abweichende Meinungen herabzuspielen, ja sogar Kongressabgeordnete und Regierungsangestellte unter Druck zu setzen um kritische Töne zu unterdrücken. Man möchte gleich aufschreien, das habe man schon Millionen Male gehört und der Vorwurf sei nicht besonders neu. Originell sich auch nicht. Ein kühlen Kopf bewahrt Josef Joffe in der ZEIT und dekonstruiert das Werk, ohne hysterisch zu werden:

Der Anklage folgt im zweiten Teil die Verschwörungstheorie. Wenn Israel eine strategische und moralische Belastung für Amerika ist, warum wird der jüdische Staat so bedenkenlos unterstützt? Warum hat sich Washington zuletzt sogar in den Irakkrieg treiben lassen – mit den bekannten schrecklichen Konsequenzen? Die Antwort besteht aus einem Wort: »Israel-Lobby«. Vornehmerweise sagen die beiden Autoren nicht »Juden«. Meistens sagen sie »Neocons«, unter denen sich zwar auch brave Christen tummeln, die aber sofort als jüdische Kabale verstanden werden. Hinzu kommt die »christliche Rechte«, die Evangelikalen. Der Hauptverschwörer aber ist Aipac, das American Israel Public Affairs Committee, das in der Tat eine glänzend organisierte und finanzierte Lobby ist, die viel Einfluss auf dem Kapitol und im Weißen Haus besitzt. von hier: DIE ZEIT

David Remnick vom New Yorker spitzt dieses Modell von Mearsheimer und Walt so zu:

In Mearsheimer and Walt’s cartography, the Israel lobby is not limited to AIPAC, the American Israel Public Affairs Committee. It is a loose yet well-oiled coalition of Jewish-American organizations, “watchdog” groups, think tanks, Christian evangelicals, sympathetic journalists, and neocon academics. This is not a cabal but a world in which Abraham Foxman gives the signal, Pat Robertson describes his apocalyptic rapture, Charles Krauthammer pumps out a column, Bernard Lewis delivers a lecture—and the President of the United States invades another country. Dick Cheney, Donald Rumsfeld, and Exxon-Mobil barely exist. von hier: New Yorker

Joffe zeigt aber in erster Linie die fehlerhafte Argumentation nach, die nur bestimmte Fakten zulässt:

Hat diese »Koscher Nostra« Amerika in den Krieg getrieben, um Saddam zu stürzen und Israel zu stützen? Dies hieße, spottet der frühere Verteidigungschef Don Rumsfeld im New Yorker, »dass der Präsident und sein Vize, ich und (Außenminister) Colin Powell gehirnlose Gewächse waren (»fell off a turnip truck«) als wir unsere Jobs antraten«. Es lässt sich auch so ausdrücken: Drei Neocon-Juden plus ihre publizistischen Büchsenspanner wie Norman Podhoretz (Alt-Neocon) und William Kristol (Jung-Neocon) haben 300 Millionen Amerikaner in den falschen Krieg gelockt – und dies in landesverräterischer Manier als Handlanger eines fremden Staates. Fazit: Bush, Cheney, Rumsfeld, Rice, die Vereinigten Stabschefs haben sich dumpfen Hirns und blinden Auges von den Juden manipulieren lassen. Die These stimmt, aber nur, wie hier zum ersten Mal enthüllt wird, weil all diese Protestanten in Wahrheit neuzeitliche Maranen sind (das waren die spanischen Juden, die sich zum Schein taufen ließen, um der Inquisition zu entgehen). von hier: DIE ZEIT

Josef Joffe hat aber argumentativ noch einiges andere zu entgegnen, was die Käufer des Buchs aber sicher nicht interessieren wird:

Es braucht schon ein kühnes (oder übel gelauntes) Gemüt, um die Geschichte der Israel-USA-Beziehung als ein Reiter-Ross-Verhältnis zu karikieren. Truman hat Israel 1948 als einer der Ersten anerkannt, aber Stalin war noch schneller. Gekämpft haben die Israelis mit Ostblockwaffen (zu einer Zeit, als dort die Führung von Juden »gesäubert« wurde). Die USA weigerten sich bis in die sechziger Jahre, Waffen zu liefern; das taten bis 1967 die Franzosen. Eisenhower hat die Israelis nach dem Suezkrieg aus dem Sinai vertrieben, um die Araber bei der Stange zu halten. Israel-Lobby hin oder her, Johnson weigerte sich, am Vorabend des Sechstagekrieges die ägyptische Blockade des israelischen Hafens Elat (Zugang zum Indischen Ozean) zu brechen; das sollten die Israelis bitte selber tun. Henry Kissinger, der Jude aus Fürth, wartete ab, bevor er den hart bedrängten Israelis im Jom-Kippur-Krieg (1973) endlich Nachschub gewährte, um sie so empfänglich zu machen für spätere Konzessionen. Dann zwang Kissinger die Israelis, die schon auf dem Weg nach Kairo waren, hinter den Suezkanal zurückzukehren. Warum hat ein glühender Freund Israels, Ronald Reagan, dem Verteidigungsminister Scharon 1982 verboten, Beirut einzunehmen? Warum verlegen die USA ihre Botschaft nicht, wie von der Lobby ständig gefordert, von Tel Aviv nach Jerusalem? So viel Lobby und so wenig Macht, das reimt sich nur, wenn man sich eine hübsche Theorie nicht von hässlichen Fakten kaputt machen lassen will. von hier: DIE ZEIT

Etwas verwundert es da schon, wenn Michael Lerner vom Tikkun-Magzine heftigst den Text von Mearsheimer und Walt benickt und als Anlass betrachtet, sich über die Medienzensur zu beschweren und den Begriff der Lobby noch weiter ausweitet.

When I talk about the Israel Lobby, however, I mean to refer not only to AIPAC or The Conference of Presidents, but to a range of organizations (including the American Jewish Congress, the American Jewish Committee, the World Jewish Congress, B’nai Brith, the Anti-Defamation League (ADL), Hadassah, the Wiesenthal Center, the Federation, and the United Jewish Appeal (UJA), the various Jewish Community Relations Councils, most of the local Hillel Foundations on college campuses, most of the Hebrew schools and day schools introducing their students to Judaism or Jewish culture, the array of Federation sponsored newspapers that are distributed in almost every Jewish community in America, as well as media like Moment and The Forward which opportunistically respond to the most powerful voices and funding in the Jewish world) and informally affiliated projects, political campaigns, and political action committees (PACs) that work together to advance Israel’s agenda in the U.S. But there are two very important qualifiers here. First, the Israel Lobby cannot be understood apart from the vast number of Jewish institutions and even individual communities, synagogues, and families that impose on their members a certain discipline that goes well beyond any normal political party or force, challenging the human, ethical, and Jewish identities of anyone who disagrees with its fundamental assumptions. In the broad sense that I’m using the term “Israel Lobby,” I’m referring to everyone who enforces—on the individual or public communal level—what I describe as Jewish Political Correctness.von hier

Jedenfalls können wir uns schon jetzt darauf einstellen, dass sich das Buch in Deutschland gut verkaufen wird, aus den gleichen Gründen, warum sich auch kleinste Gruppen und Kränzchen an ganzen Wochenenden mit der Politik Israels auseinandersetzen. Meist (oder eventuell) wird dabei unterschieden zwischen den Opferjuden und den Täterjuden- heute auch „der Israeli” - Juden an denen man die Vergangenheit abarbeiten kann, aber diesmal sind sie die Täter und man kann die historische Verantwortung einfach wie eine Stafette weiterreichen. Es geht dabei nur vordergründig um die Politik des Staates Israel, sondern doch vielmehr um Denkmechanismen, die es erlauben, dem „Juden unter den Nationen” mal wieder einen Denkzettel zu verpassen. Dies führt natürlich zu einer einseitigen Sichtweise die sich nicht mit den Palästinensern solidarisiert, sondern gegen die Israelis. Das andere, größere und gewalttätigere Konflikte (Stichwort Dafur) keine so große Aufmerksamkeit auf sich ziehen, könnte ein Hinweis darauf sein, dass es hier nicht nur um einfache Solidarität geht. André Glucksmann frug im August 2006 im Magazin Cicero, warum mit zweierlei Maß gemessen wird: „Täglich werden in Darfur, Bagdad und anderswo Moslems Opfer des Terrors. Das scheint den Westen recht wenig zu kümmern. Wenn aber Muslime von israelischen Soldaten getötet werden, ist die Empörung groß.” Damit will selbstverständlich niemand kleinreden, dass es im Nahostkonflikt Opfer gibt, aber genau dies wird beständig unterstellt. Ein weiterer Effekt eines erfolgreichen Buchverkaufs könnte sein, dass noch mehr Superinformierte in lokalen Diskussionsrunden auftauchen oder den Webmastern von jüdischen Internetseiten in langen Mails erklären, warum sie keine Antisemiten sind aber dennoch keine Juden mögen oder ähnliches… Wer sich also tatsächlich mit dem Text der „Israel Lobby” auseinandersetzen möchte, dem sei der Text von Joffe wärmstens empfohlen!