Dieses (jüdische) Jahr war voller Auf- und Umbrüche für das jüdische Leben in Deutschland. Am Wochenende war das Gefühl es passiere richtig etwas, in Berlin vermutlich intensiver als in irgendeiner anderen Stadt. Dort wurde die Synagoge Rykestraße, zeitgleich mit dem Beginn der Jüdischen Kulturtage, wieder eröffnet (Bericht bsp hier). Heute, am Sonntag, eröffnete Chabad dann sein großes Zentrum in Berlin (in diesem Blog hier Thema). Über beide Themen wurde ausgiebig in den Medien berichtet.

Welt-Online

Siehe Beispielsweise welt-online und faz.net. Aber auch im Ruhrgebiet passiert etwas: erst gestern Nachmittag war ich Gast bei einer Hochzeit. Vielleicht noch mehr Zeichen jüdischen Lebens als es das architektonische sein kann, wenn sich ein Paar bewusst für eine Chuppah entscheidet. Kürzlich wurde in Unna eine neue Gemeinde gegründet (siehe Bericht hier), andernorts eine Synagoge eingeweiht und im Dezember, also bereits im Jahr 5768, wird eine weitere Synagoge in Bochum folgen. Chanukka scheint kein schlechter Anlass für ein chanukkat ha bajit zu sein… Im Zusammenhang mit den offiziellen Anlässen war häufig von der „Wiedergeburt“ des Judentums in Deutschland die Rede. Und dennoch scheint der initiale Impuls für einen richtig großen Aufbruch zu fehlen. In einigen Städten Deutschlands leben heute mehr Juden als jemals zuvor und doch gibt es in diesen Städten nicht immer mehr jüdisches Leben. Trotz hoher Mitgliederzahlen ist in Deutschland noch immer keine entsprechende Infrastruktur entstanden - sie entstehen nur sehr langsam- Auseinandersetzungen über Inhalte spiegeln nicht immer die Lebensrealität der Gemeindemitglieder wieder – dennoch, oder gerade deshalb, gibt es einige gute Initiativen die für ein aktives jüdisches Leben werben. Sowohl auf orthodoxer, als auch auf liberaler Seite. Chabad arbeitet erfolgreich daran, die „Chabadsicht“ auf das Judentum zu verbreiten, einige nichtorthodoxe Gruppen haben ebenfalls mit „Outrach“ begonnen und versuchen Jüdinnen und Juden jeden Alters für das Judentum zu begeistern. Wenn ein ein „Wettbewerb“ über Inhalte statt fände (ohne „politische” Motivation), so wäre dies möglicherweise ein Gewinn für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Denn dort wo man Synagoge baut, braucht man natürlich auch Menschen, die hineinkommen um zu beten und Mitglieder die gemeinsam an einer Gemeinde arbeiten. Vielleicht wird es im kommenden Jahr 5768 diesen Wettbewerb geben? Wenn es ihn gibt, dann kann man an dieser Stelle, in diesem Blog darüber lesen ;-) Um zurück zum vergangenen Wochenende zu kommen: Neue Synagogen mögen ein Indikator für jüdisches Leben sein, aber sie sind nur einer. Vielleicht sollten wir weitere finden, weite JüLIs (Jüdisches Leben Indikatoren)? Wie viele Paare standen im vergangenen Jahr unter der Chuppah? Wie viele Kinder wurde beschnitten? Brummt der Umsatz der koscheren Geschäfte? etc… etc… :new: In der Rede von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Eröffnung des Jüdischen Bildungs- und Familienzentrums in Berlin wird übrigens auch erwähnt, dass jüdisches Leben nicht vom Himmel fällt:

“Wer Häuser baut, der bleibt” – so hat Charlotte Knobloch gesagt. Und daher freuen wir uns alle über jedes neue Haus, das jüdischen Gemeinden bauen. Hier in der Münsterschenstraße haben Sie ein ganz wunderschönes Haus geschaffen. Ein Haus zum Beten und zum Leben. Es ist deshalb eine besondere Freude für mich, heute dabei sein zu können und mit Ihnen die Einweihung dieses Hauses feiern zu dürfen. Glückwünsche möchte ich vor allem Ihnen, Rabbi Teichtal, aussprechen. Es ist vor allem Ihrer nicht nachlassenden Energie zu verdanken, dass dieses eindrucksvolle Gemeindezentrum Wirklichkeit geworden ist. Hier ist ein weiteres Zentrum für jüdische Tradition und Kultur in Berlin entstanden. Hier werden Bildung und Erziehung jetzt neue Grundsteine legen für jüdische Zukunft in Deutschland. Bald wird hier das Lachen von Kindern und Jugendlichen zu hören sein. Ich wünsche Ihnen, dass hier für Generationen jüdischer Familien geistige und soziale Heimat entstehen möge. Ein solch positiver und auf die Zukunft gerichteter Tag wie heute ist Grund zur Freude, besonders in und für Deutschland. Für uns ist es noch mehr: es ist Grund zur Dankbarkeit. Jüdisches Leben kehrt wieder zurück in unser Land - das Land, das in einem wahnhaften Verbrechen alle Juden vernichtet hat, deren es habhaft werden konnte und das jede Spur jüdischen Lebens austilgen wollte. Die Erinnerung an die Opfer dieser Katastrophe ist in das Gedächtnis unseres Landes eingebrannt, und auch die 70 Jahre, die seit den ersten Schritten zur Shoa vergangen sind, haben dieser Erinnerung nichts anhaben können. Wir sind dankbar, dass nach der Katastrophe des Judentums wieder Juden zu uns kommen, die bei uns alle Facetten der jüdischen Religion und Kultur leben wollen. Wir haben uns gefreut, als letztes Jahr in Dresden zum ersten Mal wieder drei Rabbiner ordiniert worden sind. Mit Staunen und Freude haben wir die neue Synagoge in München entstehen sehen. Und wir freuen uns über dieses Gemeindezentrum von Chabad Lubawitsch, das jüdische Bildung und Kultur als Teil deutscher Wirklichkeit wieder festigen wird. Die enorme Anteilnahme der Öffentlichkeit an diesen Ereignissen hat gezeigt, dass dieses Geschenk einer erneuerten jüdischen Gegenwart in Deutschland mit offenen Armen aufgenommen wird. Unser Wunsch, unser Traum ist es jetzt, dass es gelingt, jüdisches Leben in all seinen vielfältigen Spielarten in den Gemeinden in Deutschland wieder zu etablieren. Das Judentum hat viele Gesichter, und es ist gut, wenn dieser Pluralismus der verschiedenen Strömungen – natürlich in jeweiligen Respekt voreinander - auch in Berlin wieder erlebbar wird. Wir sollten uns aber hüten, diese positiven Zeichen als Rückkehr zur Normalität zu verstehen. Das wäre ein Wunschdenken, schlimmer: ein vielleicht ungewollter Versuch, das einzigartige Verbrechen der Shoa und gleichzeitig den völligen Bruch in der deutschen und europäischen Kultur einzuebnen. Eher könnten wir von einem unverhofften Wunder sprechen. Der unvergessene Paul Spiegel, den wir vor anderthalb Jahren gemeinsam zu Grabe getragen haben, hat es eine “Renaissance” jüdischen Lebens in Deutschland genannt. Aber diese “Renaissance” ist kein fertiges Wunder von oben, sondern eines, das aus der Arbeit zahlloser Menschen entsteht. Wir danken deshalb Ihnen allen für das Vertrauen in die deutsche Demokratie, das Sie uns mit dieser Arbeit aussprechen. Ich freue mich über den Einsatz der Sponsoren, die es möglich gemacht haben, ein solches Werk fast ganz auf der Basis privater Spenden zu errichten. Ihr Engagement geschieht im Vertrauen darauf, dass jüdisches Leben in Deutschland möglich und willkommen ist. Ja, jüdisches Leben in Deutschland ist möglich und es ist willkommen - auch wenn es noch immer verblendete Leute gibt, die das nicht wollen. Der Antisemitismus ist nicht ganz tot. Synagogen und Gemeindezentren müssen noch immer von der Polizei geschützt werden. Sie selbst haben zu Beginn des Jahres erfahren müssen, dass der Jüdische Kindergarten in Spandau in einem unbewachten Augenblick beschädigt und beschmiert wurde. Gott sei Dank ist dabei niemand zu Schaden gekommen. Der Rechtsextremismus ist ein Nährboden auch für dumpfe antisemitische und rassistische Ressentiments. Ereignisse wie in Mügeln zeigen: wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Rassismus und Antisemitismus haben gerade in Deutschland keinen Platz. Sie können sich darauf verlassen, dass die Bundesregierung, das Land Berlin und eine engagierte Zivilgesellschaft ihre Verantwortung wahrnehmen. Ich wünsche diesem Haus Glück und Segen.