Siddur zum Sanhedrin in Paris

Daß die Juden seit der Zerstörung Jerusalems, das heißt, seit mehr als 1700 Jahren, ohne Vaterland und ohne Bürgerrecht auf der ganzen Erde in der Zerstreuung leben, daß die meisten von ihnen, ohne selber etwas Nützliches zu arbeiten, sich von den arbeitenden Einwohnern eines Landes nähren, daß sie daher auch an vielen Orten als Fremdlinge verachtet, mißhandelt und verfolgt werden, ist G-tt bekannt und leid. – Mancher sagt daher im Unverstand: »Man sollte sie alle aus dem Lande jagen.« Ein anderer sagt im Verstand: »Man sollte arbeitsame und nützliche Menschen aus ihnen machen, und sie alsdann behalten.« Den Anfang dazu hat der große Kaiser Napoleon gemacht. Merkwürdig für die Gegenwart und für die Zukunft ist dasjenige, was er wegen der Judenschaft in Frankreich und dem Königreich Italien verordnet und veranstaltet hat. Schon in der Revolution bekamen alle Juden, die in Frankreich wohnen, das französische Bürgerrecht, und man sagte frischweg: Bürger Aron, Bürger Levi, Bürger Rabbi, und gab sich brüderlich die Hand. Aber was will da herauskommen? Der christliche Bürger hat ein anderes Gesetz und Recht, so hat der jüdische Bürger auch ein anderes Gesetz und Recht, und will nicht haben Gemeinschaft mit den Gojim. Aber zweierlei Gesetz und Willen in einer Bürgerschaft tut gut, wie ein brausender Strudel in einem Strom. Da will Wasser auf, da will Wasser ab, und eine Mühle, die darin steht, wird nicht viel Mehl mahlen.

Soweit die zeitgenössische Einführung von Johann Peter Hebel im „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes” von 1808 die sich nicht ausschließlich positiv begrüßend liest aber ein wenig an die Kommentare zur deutschen Islamkonferenz erinnert. Dan Diner schrieb am Samstag in der Welt (online) , dass der Islam von einer solchen historischen Entwicklung, wie sie das Judentum erfahren hat, lernen könne und bezieht sich vor allem auch auf das von Napoleon einberufene Sanhedrin und schafft eine interessante Überleitung vom Sanhedrin von Paris zum Verhältnis des Islam zur europäischen, nennen wir es, Umgebung. Dan Diner sieht aber das Judentum (und also heute den Islam) vor allem im Zusammenspiel mit dem Christentum und weniger mit den Staaten laizistischer Prägung:

Judentum und Islam weisen nicht unerhebliche Gemeinsamkeiten auf. Bei beiden handelt es sich um Religionen, die auf einem offenbarten Gesetz beruhen. Angesichts der anbrandenden Moderne wurden damals Juden und werden heute Muslime aufgefordert, ihre Religion mit den christlichen Konfessionen kompatibel zu machen. Hierzu haben sie auf wesentliche Bestandteile ihrer Glaubenswelt zu verzichten. Auch und gerade dann, wenn sie im Bereich des Westens wohnhaft sind, dem Kulturzusammenhang der säkularisierten Christenheit. Indes schienen die Juden für die sich ihnen damals öffnenden Lebensumstände besser gerüstet, als es die Muslime heute sind. Dies vor allem deshalb, weil die Juden als eine Bevölkerung der Diaspora von jeher gewohnt waren, ein Dasein als Minderheit zu führen. von hier

Diner verweist darauf, dass das Judentum schon zuvor die Trennung zwischen halachischem Gesetz und Landesgesetz kannte, dies aber nochmals bekräftigte:

In der Präambel zu den Antworten auf die zwölf Fragen Napoleons verweist die Versammlung der jüdischen Notabeln auf den Umstand, dass der jüdischen Tradition entsprechend der Herrschaft des Landes letzte Autorität auch in den sie betreffenden politischen wie zivilen Angelegenheiten zukommt. Damit folgten sie dem seit dem babylonischen Exil geltenden Prinzip des “Dina de-Malchuta Dina”. Dies bedeutet in etwa, dass die Juden das im Lande ihres Aufenthaltes gültige Recht vor dem ihrigen zu akzeptieren haben. Ein solcher Vorbehalt freilich gilt nicht in Angelegenheiten von Ritus und Liturgie. von hier

Im weiteren Verlauf des Artikels vergleicht Diner die anschließende Entwicklung des Judentums mit den, erst aufkommenden, Bewegungen innerhalb des Islam, die ihn in die „nicht-sakralen Weltdeutung” führen sollen. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass die jahrhundertelange Ausgrenzung der europäischen Juden sich tief in das kollektive Gedächtnis des europäischen Judentums eingegraben hat und nach der französischen Revolution in vielen das Bedürfnis geweckt hat, wahrhaftig gleiche Bürger mit gleichen Rechten zu sein. Für die europäischen Juden war es es neu, dass man zwischen nationaler Zugehörigkeit und Religion trennen konnte, denn bisher wurden sie ja seltenst als gleichgestellte Bürger betrachtet. Die Revolution und das große Sanhedrin haben diese Bewegung etwas forciert. Hebel schreibt:

Als aber die Abgeordneten und Rabbiner aus allen Departementern, worin Juden wohnen, beisammen waren, ließ bald der Kaiser ihnen gewisse Fragen vorlegen, die sie sollten bewegen in ihrem Herzen, und beantworten nach dem Gesetz, und war daraus zu sehen, es sei die Rede nicht vom Fortschicken, sondern vom Dableiben, und von einer festen Verbindung der Juden mit den andern Bürgern in Frankreich und in dem Königreich Italien. Denn alle diese Fragen gingen darauf hinaus, ob ein Jude das Land, worin er lebt, nach seinem Glauben könne ansehen und lieben als sein Vaterland, und die andern Bürger desselben als seine Mitbürger, und die bürgerlichen Gesetze desselben halten.

Der Punkt Fortschicken und Dableiben ist der interessante und wesentliche, nicht die erzwungene Verbiegung religiösen Rechts. Das Judentum musste sich nicht verbiegen um in Koexistenz leben zu können, es war ja, wie Diner auch schreibt, eine Minderheitsreligion und diesen Status hat der Islam in zahlreichen Ländern seit Jahrhunderten nicht. Anhänger des Islam könnten also vom Judentum lernen, wie man seine religiöse Identität behält, obwohl man in der Diaspora lebt und ein lebendiger Teil von ihr ist, jedoch zuweilen aber auch von dieser zurückgewiesen wird.