Dr. Grigori Pantijelew fragt sich hier, was wohl aus den Juden in Deutschland wird und liefert eine, durchaus zutreffende, Zustandsbeschreibung der Gemeinden für beide Seiten des jüdischen Deutschlands. Er betrachtet die russischsprachigen Gemeindemitglieder und die, so genannten, Alteingesessenen:

Mir geht es eher darum, die Verbindung zwischen vorhandenen Strömungen zu fördern. Wie erreicht man die Immigranten, die kaum Zeitungen lesen und dem Mainstream der deutschen bzw. russischen TV-Medien ausgeliefert sind? Wer will und kann vermitteln - die jüdische Tradition, die Kultur, auch die der Diskussion? Die deutschsprachigen Juden sind als Angehörige von Überlebenden aufgewachsen und sind viel mehr Enkelkinder des osteuropäischen Judentums. Das bedeutet, die meisten Repräsentanten gehören nicht wirklich zu der liberalen Tradition, wie sie in Deutschland vor 1933 gepflegt wurde, und wie sie es von sich denken, sondern bilden selbst eine eigene Tradition. Es ist eine Mischung für sich: Die selbstauferlegte Strenge des Ritus und eine gesuchte Nähe zur Politik eines säkularen (aber doch im vielem christlich geprägten) Staates sind schon ein Widerspruch. Daraus erfolgt ihre Grunderfahrung, wie zum Beispiel die Notwendigkeit jahrein, jahraus Politiker oder Vertreter der christlichen Kirchen daran zu erinnern, dass eine Veranstaltung, zu der eine Jüdische Gemeinde eingeladen wird, nicht für einen späten Freitag anberaumt werden kann. Das will sich einfach nicht ändern. Mal wollen sie eine Synagoge für „ihre lieben“ Juden bauen, mal Stolpersteine verordnen, mal reden sie von “ihrer” Bibel, mal fragen sie, “wie es euch bei uns geht”. Jüngst haben gar Bischöfe die Zeit gefunden, als Touristen nach Israel zu reisen, und fanden dabei kein Wort der Empörung über Missstände im eigenen Lande (antisemitischer Angriff auf eine Kindertagesstätte), posaunten aber ihre private Meinung über das bedrückende Elend der Palästinenser groß heraus. Auf diesem Wege verfügen die nichtjüdischen deutschen Eliten weiter darüber, wie die Zukunft des Judentums in Deutschland auszusehen hat: Synagogen als Festungen, starre Shoa-Gedenkfeste, bei denen das Leid der Palästinenser zunehmend mehr angesprochen wird und Juden sich immer weniger zeigen, alltägliche Polizeipräsenz um die jüdischen Einrichtungen und die Selbstbeschwörung um den angeblich unwägbar kleinen Antisemitismus in der Gesellschaft. von hier

dann die andere Seite:

Die russischsprachigen Juden sind mit vollkommen anderen Lebenserfahrungen ausgestattet. In der Atmosphäre des staatlichen Antisemitismus aufgewachsen, opferten sie ihr Judentum zuerst, um dann geopfert zu werden. Um sich vom Antisemitismus zu befreien, haben sie auf ihre Religion verzichtet. Dann wurden sie an ihre Nationalität brutal erinnert und diskriminiert. Jeder kann seine eigene traurige Biographie erzählen, wie es einmal war. Wenn sich also die Russischsprachigen orientieren, dann stellen sie fest, dass sie außer ihren Lebensgeschichten nichts Jüdisches an sich haben, nicht einmal die Sprache. Anstatt aber die verlorenen Wurzeln neu zu pflegen, suchen sie nach der Schuld und finden sie nicht bei sich, sondern – wie gesagt - unter den deutschsprachigen Juden. Diese verweigern die Umstellung des Gemeindelebens auf die russische Sprache und Kultur. Keine Jubiläumsfeier für Puschkin? Kein Treffen mit einem ehemaligen Stalinisten, der so gerne aus Russland kommen würde, um über sein bewegtes Leben zu erzählen und Kleingeld zu verdienen? Keine Änderung der religiösen Prinzipien zugunsten der nationalen? Den sich unermüdlich weiter drehenden Kreis habe ich somit schon zweimal beschrieben.auch von hier

In seinem Text geht Dr. Grigori Pantijelew recht schonungslos mit den Akteuren der Jüdischen Bühne Deutschland um und als Bestandsaufnahme ist es fast bedrückend. Wie geht es also weiter? Die Situation ist verfahren, eine Lösung, wie aus dem zahlenmäßigen Zuwachs in den letzten Jahren, ein dauerhafter - auch in den kommenden Jahren- wird, hat natürlich niemand und deshalb gibt es zahlreiche Lösungsvorschläge (wie Pantijelew ganz richtig schreibt) und deshalb ist er nicht töricht auch einen vollständigen Vorschlag zu bringen, sondern gibt nur Impulse (wie das in diesem Blog hier auch zuweilen passiert):

Zauberworte aus meiner Sicht wären Pluralismus und Toleranz. Ist es eine Gebetsmühle, wenn dieses Wort schon wieder auftaucht? Nein, es ist eine Tatsache, dass heute weltweit mindestens vier Strömungen im Judentum koexistieren, die alle historisch bedingt herausgebildet sind (orthodox, liberal, konservativ, rekonstruktionistisch). Warum nicht noch mehr, aus Bedürfnissen einer neuen jüdischen Gemeinschaft, die gerade hier und jetzt entsteht? auch von hier

und schließt dann mit der Forderung:

Wenn auserwählt, dann bitte schön - zum Überleben. Wenn alte Traditionen mitgenommen werden - dann zum Weitergeben. Bewusst. Aus sich heraus. In eigener Verantwortung, auch für die Kindeskinder. Damit diese den Spagat schaffen – sich vom Russischen ins Deutsche zu übersetzen, ohne das Jüdische unterwegs zu verlieren. auch von hier

Damit kratzt er an dem eigentlichen Sinn und Zweck der Übung. Wenn die Gemeinden überleben wollen und sollen, dann müssen sie ihre Ressourcen in diejenigen stecken, die diesen Aufbau leisten sollen und das ist unzweifelhaft die Generation Minus 50 (darunter fasse ich alle von 25 bis 50). Außerdem muss man sich zwangsläufig mit der Frage auseinandersetzen, warum soll das Judentum überleben? Existiert es als Selbstzweck? Das tut es nicht und vielleicht sollte man dies auch einmal beachten und daraus ein Selbstverständnis entwickeln. Bemerkenswert ist aber auch, dass die Fragestellung keine neue ist. Harry Maor schrieb bereits 1961 im Vorwort zu seiner Dissertation über den „Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinden in Deutschland” (Mainz, 1961). Einige seiner Beobachtungen teilen wir auch 46 Jahre nach Erstveröffentlichung:

Wir werden den „Wiederaufbau der Gemeinden” dabei nicht vom Standpunkt seiner unmittelbaren Architekten, der um ihn verdienten Gemeindeführer, betrachten, deren gutes Recht es ist, auf so sichtbare Errungenschaften wie Synagogen und Gemeindehäuser stolz zu sein. Wir werden vielmehr zu wissen begehren, was dieser Wiederaufbau für die Juden in Deutschland selbst bedeutet, welche Notiz sie von ihm nehmen, kurz, was sein gesellschaftlicher Charakter ist. Obwohl zahlreiche reportageartige Äußerungen über die Juden in Deutschland vorliegen, so ist es dennoch bisher zu keiner umfassenden wissenschaftlichen Darstellung gekommen. Das hat die verschiedenartigsten Gründe. Das Interesse an den Juden in Deutschland nahm vorwiegend die Form eines Interesses an „der Judenfrage” an, zu der man vom religiösen, weltanschaulichen oder politischen Standpunkt aus Stellung nahm. Aus erklärlichen Gründen standen und stehen noch immer moralische Fragen im Vordergrund, ja sie scheinen der einzige Aspekt zu sein, unter dem die Nichtjuden die Juden und die Juden sich selbst betrachten. Das meiste, was der Verfasser namentlich in Deutschland selbst über die Juden lesen konnte, war apologetischer Natur; vieles war gutgemeint „philosemitisch”, und fast alle literarischen Zeugnisse tragen die Spuren irgendeiner Befangenheit. […] Wenn wir selbst zu dem Schluß gelangen werden, dass der „Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland” auf einem äußerst schwachen Fundament vollzogen wird, so bleiben wir gewiss nicht unberührt davon, dass die Baumeister der Gemeinden in den Grundstein die Worte des Propheten Jesaja eingesenkt haben: „Aufgebaut werden durch dich Trümmer der Vergangenheit, Grundlagen für kommende Geschlechter richtest du auf”.

Ein Blick in seine Arbeit lohnt sich also als ergänzende, vervollständigende Lektüre. Die Arbeit gibt es hier.