Zunächst gilt mein Dank Elisabeth (die hier stets durch gute Kommentare auffällt), die meine Aufmerksamkeit auf den Text „Freundschaft und Kritik” in der Frankfurter Rundschau, gelenkt hat. 25 deutsche Akademiker kommentieren (und lamentieren) über die besonderen Beziehungen Deutschlands zu Israel und die derzeitige politische Situation. Aufhänger ist ein Interview mit der israelischen Außenministerin Tzipi Livni mit der ZEIT im August 2006:

ZEIT: Sind die Beziehungen zwischen Berlin und Jerusalem heute besser als früher? Liwni: Ich bin erst seit ein paar Monaten Außenministerin. Aber die Beziehung war immer eine besondere und freundschaftliche.

Die Einstiegsfragen sind folgende:

1. Ist es angemessen und sinnvoll, die “freundschaftliche Beziehung” - und das soll sie nach Auffassung der Autoren bleiben - weiterhin als “besondere” im angedeuteten Sinne zu pflegen? 2. Steht Deutschland aufgrund des Holocaust wirklich nur bei Israel in der Pflicht im Nahen Osten? 3. Und was bedeutet es für den binnendeutschen Diskurs, für die Beziehungen zwischen nicht-jüdischen, jüdischen und muslimischen Deutschen, wenn diese beiden Fragen ernsthaft gestellt werden? von hier

Ein Schelm, wer meint er kenne die Antworten bereits, weil er den diesbezüglichen deutschen Diskurs verfolgt hat… Dann:

Zu welchen Antworten wir und die Leser mit oder gegen uns auch immer kommen, eines steht nicht in Frage: Dass angesichts der weltweit historischen Einzigartigkeit des Holocaust das Verhältnis der nicht-jüdischen Deutschen zu Juden, zu allen, die sich als solche verstehen, ein einmaliges ist, das von besonderer Zurückhaltung und besonderer Sensibilität geprägt sein muss, und dass uns nichts von der Verpflichtung entbinden kann, dem religiösen Antijudaismus und dem ethnisch oder/und rassistisch motivierten Antisemitismus entschieden entgegenzutreten, wo immer er auftritt.

Durch die Lektüre verschiedener Texte dieser Machart, erwartete ich ein „Aber”, es handelt sich hier aber um einen Text von 25 hochkarätigen Akademikern, da fällt man nicht gleich mit der Tür ins Haus:

Auf der zwischenmenschlichen Ebene gilt zweifellos: Eine tragfähige Freundschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Freunde oder Freundinnen einander aus Sorge um das Wohlergehen des anderen auch vor Fehlern, Fehlentscheidungen und Fehlhaltungen warnen. Dies umso mehr, wenn für beide Seiten viel auf dem Spiel steht.

dann:

Nehmen wir an, die israelische Regierung hätte, wie es unter Freunden nahe liegen würde, nach der Tötung der acht israelischen Soldaten und der Entführung von zwei weiteren durch die Hizbullah am 12. Juli die deutsche Regierung über ihre geplanten Reaktionen informiert

Auch hier fehlt der Hinweis, dass der eigentliche Konfliktauslöser mit dem Libanon nicht die Entführung der Soldaten war (niemand fragt sich mehr, was aus denen geworden ist), sondern der permanente Beschuß des israelischen Nordens mit Katjuscha-Raketen aus dem Süden Libanons in dem die Hisbollah die tatsächliche Regierungsgewalt innehatte und wahrscheinlich auch wieder erhalten wird. In dem Manifest kommt es jetzt aber knüppeldick:

Zerstörung eines Großteils der Infrastruktur des Libanon inkl. der Wasser-, Elektrizitäts- und Ölversorgung sowie des Tourismus durch einen Ölteppich vor der Küste, Vertreibung der Bevölkerung aus dem Südlibanon, bewusste Inkaufnahme hoher ziviler Opfer, um wenigstens eine militärische Schwächung - wenn schon nicht eine Entwaffnung - der Hizbullah zu erreichen, Verweigerung humanitärer Korridore zur Versorgung derjenigen, die nicht fliehen konnten, vollständige Zerstörung der Schiitenviertel in den libanesischen Städten, wochenlange Blockade der Küste und der Flughäfen und Einsatz von Streubomben. Wie hätte die deutsche Regierung als Freund Israels darauf reagieren können? Vielleicht wäre es der deutschen Regierung eher als der israelischen möglich gewesen, die katastrophalen weltweiten Folgen einer solchen „massiven Vergeltung” nach dem Prinzip der Kollektivhaftung einzuschätzen?

Das Wort Vergeltung mußte natürlich in den Text - wir wissen ja: „Auge um Auge etc.” Dann folgt der Teil „Die deutsche Verantwortung gegenüber Palästina”

Niemand sollte vertrieben werden, und so argumentierte Martin Buber noch 1950. Erst durch die früh erkennbare radikale Bedrohung der Juden im nationalsozialistischen Einflussbereich kam es zu einer die Balance mit den Arabern gefährdenden Masseneinwanderung. Nicht zuletzt unter dem Schock des Holocaust fand der gegen die arabischen Staaten gefasste Beschluss der Vereinten Nationen, die Gründung eines Staates Israel zu akzeptieren, internationale Zustimmung, trotz zunächst starker Bedenken der Briten und über lange Zeit auch des Außenministeriums der USA.

Mit anderen Worten: Es ist der Holocaust, der das seit sechs Jahrzehnten anhaltende und gegenwärtig bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Leid über die (muslimischen wie christlichen und drusischen) Palästinenser gebracht hat. Das ist nicht dasselbe, als hätte das Dritte Reich einen Völkermord an den Palästinensern verübt. Aber zahllose Tote waren auch hier die Folge, das Auseinanderreißen der Familien, die Vertreibung oder das Hausen in Notquartieren bis auf den heutigen Tag. Ohne den Holocaust an den Juden würde die israelische Politik sich nicht berechtigt oder/und gezwungen sehen, sich so hartnäckig über die Menschenrechte der Palästinenser und der Bewohner Libanons hinwegzusetzen, um seine Existenz zu sichern. Und ohne den Holocaust erhielte Israel dafür nicht die materielle und politische Rückendeckung der USA, wie sie sich v.a. seit den neunziger Jahren entwickelt hat. (Die amerikanische Finanzhilfe an Israel beläuft sich auf 3 Mrd. US-Dollar jährlich und entspricht damit 20 Prozent der gesamten Auslandsfinanzhilfe der USA.)

Wenn man sich das genau durchliest (klingt irgendwie ähnlich dem, was Ahmadinedschad gesagt hat…) glaubt man folgendes zu lesen: Mit anderen Worten: Israel erpresst die westlichen Staaten moralisch mit den Opfern der Schoah.

weiter:

Es ist also nicht nur Israel, das Anspruch auf besondere Aufmerksamkeit, Zuwendung und freundschaftliche Kritik Deutschlands (und Europas) hat

Hier wird so getan, als würde Europa Israel extremst bekuscheln (wegen oben genannter kausaler Zusammenhänge) und die anderen Protagonisten links liegen lassen. Tatsächlich ist es aber doch so, dass die europäische Union (und gerade die) versucht hat, die palästinensischen Behörden finanziell zu unterstützen, ohne Ergebnis für eine Verbesserung der Lebenssituation, den das Geld versickerte ja an anderen Orten. Später heißt es:

Vielleicht muss es - ohne Annektionen - angesichts des ganzen vergangenen Schreckens für einige Jahrzehnte tatsächlich eine weitgehende Trennung geben, bis hin zu Korridoren durch Tunnel zwischen den Landesteilen Palästinas, so lange, bis sich die Lage beruhigt hat. Freiwillige Begegnungen insbesondere der jungen Leute auf “neutralem Boden” könnten gleichzeitig helfen, die beiderseitigen stereotypen Wahrnehmungen aufzulösen.

Lustige Idee: Ein Tunnel zwischen den Gebieten des Staates Palästina. Nicht so lustig sind die anderen Behauptungen die implizieren, es gäbe nur und ausschließlich Hass. Deshalb schlägt man vor, es solle zu Begegnungen auf neutralem Boden kommen. Soweit ich weiß, gibt es Begegnungen auf vielen Ebenen und meist Begegnugen der einfachen Menschen, die keine Politiker sind, sondern pragmatische Bewohner einer Region in der viele politische und religiöse Kräfte versuchen ein Feuer anzufachen. Betrachten wir noch einmal die Rede von David Grossman, der zeigt, dass in Israel Palästinenser nicht nur als Terroristen betrachtet werden (wie häufig angenommen wird):

Wenden Sie sich an die Palästinenser, Herr Olmert. Sprechen Sie sie über die Köpfe von Hamas hinweg an. Wenden Sie sich an die Gemäßigten unter ihnen, diejenigen, die Hamas und ihre Politik ebenso ablehnen wie Sie und ich. Wenden Sie sich an das palästinensische Volk. Sprechen Sie die tiefe Verwundung dieser Menschen an, erkennen Sie ihre fortwährenden Leiden an. Künftige Verhandlungen werden Ihnen und der Position des Staates Israel keinerlei Abbruch tun. Nur die Herzen werden sich ein wenig füreinander öffnen, und das hat ungeheure Kraft. Dem schlichten menschlichen Mitgefühl wohnt die Kraft einer Naturgewalt inne, gerade bei Stillstand und Feindschaft. Betrachten Sie die Palästinenser einmal nicht durch Kimme und Korn oder eine geschlossene Straßensperre. Sie werden ein Volk erblicken, das nicht weniger gepeinigt ist als wir. Ein besetztes, deprimiertes Volk ohne Hoffnung. Gewiss sind die Palästinenser mit schuld, dass wir in der Sackgasse gelandet sind. Gewiss haben auch sie erheblichen Anteil am Fehlschlagen des Friedensprozesses. Aber betrachten Sie sie einen Moment anders. Nicht nur die Extremisten unter ihnen. Nicht nur diejenigen, die ein Interessenbündnis mit unseren Extremisten haben. Schauen Sie auf die entscheidende Mehrheit dieses bedauernswerten Volkes, dessen Schicksal mit unserem verknüpft ist, ob wir wollen oder nicht. ZEIT-Online

Lila weißt in ihrem Blog (in einem anderen Zusammenhang) auf die israelische Unabhängigkeitserklärung hin:

Wir wenden uns - selbst inmitten mörderischer Angriffe, denen wir seit Monaten ausgesetzt sind - an die in Israel lebenden Araber mit dem Aufrufe, den Frieden zu wahren und sich aufgrund voller bürgerlicher Gleichberechtigung und entsprechender Vertretung in allen provisorischen und permanenten Organen des Staates an seinem Aufbau zu beteiligen. Wir bieten allen unseren Nachbarstaaten und ihren Völkern die Hand zum Frieden den und guter Nachbarschaft und rufen zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe mit dem selbständigen jüdischen Volk in seiner Heimat auf. Der Staat Israel ist bereit, seinen Beitrag bei gemeinsamen Bemühungen um den Fortschritt des gesamten Nahen Ostens zu leisten.

Wer das gesamte Manifest liest, kann schnell den Eindruck erhalten, hier wird alle antiisraelische Kritik nocheinmal zusammengerührt und mit dem Deckmäntelchen einer humanitären Besorgtheit bedeckt.

In einem letzten Abschnitt werden dann noch Menschen bemüht, die sich nicht mehr wehren können, weil sie längst gestorben sind.

Vielleicht hilft es sich vorzustellen, wie in der gegenwärtigen Situation wohl die vielen Intellektuellen, Schriftsteller, Künstler und Musiker jüdischer Herkunft von Adorno über Einstein, Freud und Marx bis zu Zweig reagiert hätten, auf die wir so stolz sind und ohne die die deutsche Kultur und der deutsche Beitrag zur Wissenschaft um so vieles ärmer wären. Wir sind überzeugt, dass sie den folgenden Satz unterschreiben würden: Nur Gleichheit und Respekt vor Recht und Völkerrecht können ein friedliches Zusammenleben gewährleisten und sind die einzigen Garanten für eine dauerhafte Existenz des Staates Israel und des zukünftigen Staates Palästina in Sicherheit - und für die Sicherheit von Juden und Jüdinnen bei uns und in aller Welt.

Sie zählen zu den guten Juden, weil sie ja einen Beitrag zur deutschen Wissenschaft geliefert haben. „Nur Gleichheit und Respekt vor Recht und Völkerrecht können ein friedliches Zusammenleben gewährleisten.” - das muß aber für alle Beteiligten des Konfliktes gelten. Wer schlau ist, unterstützt diejenigen, die sich daran halten wollen und lamentiert nicht nur darüber. Geht zu den gemäßigten Kräften und unterstützt sie!