Wie die Prüfung der Herde durch den Hirten. So wie er sie ziehen lässt unter seinem Stabe, so lässt Du ziehen, und zählst und prüfst. Du wägst die Seele jedes Lebewesens und bestimmst die Enden all Deiner Geschöpfe - und schreibst nieder das Maß ihres Urteils.

Am Neujahrstag wird es geschrieben und am Versöhnungstag besiegelt, wieviele vergehen und wieviele entstehen, wer leben wird und wer sterben, wer an sein Ende gelangt und wer nicht an sein Ende gelangt. Wer in Wasserflut, wer in Flammenglut, wer vom Schwert zerrissen, wer vom Tier zerbissen. Wer in Hungersnot, wer vom Durst bedroht. Wer in des Bebens Rot, wer im Seuchentod, wer erwürgt und wer zerschmettert. Wer in Ruhe bleibe und wer unsteht treibe. Wer in Frieden sitze und wer getrieben durch Verfolgers Hetze, wer in Glück und wer in Qual, wer arm wer reich, wer sinkt, wer steigt. Aber Umkehr und Gebet und Liebeswerke, wenden ab das Böse des Verhängnisses, denn so wie Dein Name, so ist Dein Ruhm: Schwer zu erzürnen und leicht zu versöhnen! Denn nicht hast Du Gefallen am Tod des Sterblichen, sondern dass er umkehre von seinem Wege und lebe. Und bis zum Tage seines Todes wartest Du auf ihn, wenn er nur sich wende zu Dir, sofort nimmst Du ihn an. Wahr ist all dieses, denn Du bist ihr aller Schöpfer. Du kennst doch ihren Trieb, und dass sie Fleisch und Blut. – Aus dem Unetane Tokef Gebet zu Rosch ha Schanah und Jom Kippur (im Rödelheimer Machsor steht es nicht für Jom Kippur)

Untane Tokef ist ein heiß diskutiertes (manchmal zumindest) Gebet in der nichtothodoxen Welt. Kann man es heute noch sagen? Entspricht das unserer heutigen Sicht auf G-tt, wenn wir tatsächlich an eine direkte Bestrafung glauben? Mir hat Untane Tokef immer einen Schauer über den Rücken getrieben und in diesem Jahr, in dem ich mit dem Tod vieler lieber Menschen konfrontiert wurde, noch mehr als bisher. Wir können nicht wissen, was vor uns liegt und vermutlich wollen wir das auch nicht wissen. Die Auseinandersetzung mit dem Text bleibt und von Jahr zu Jahr gewinnt er mehr und mehr Bedeutung und Emotionalität. Aber ich bin nicht der einzige, der sich öffentlich Gedanken darüber macht (vermutlich haben auch viele der Leser sich auch schon mit Untane Tokef beschäftigt). Danya Ruttenberg schreibt:

The theology of the Unetane Tokef has always troubled me–how can we accept that prayer and repentance and tzedekah (acts of righteousness, usually translated as charity) are going to save us from earthquakes, car accidents, persecution? We know that lots of very good people suffer every day, and that many people who do horrible things prosper. One could write off the prayer as reflective of an era in which people found solace in trying to control their fate, but I think that’s unfair and dismissive of the liturgy. I’m not sure that I believe that, were we a perfect world of perfect souls, nobody would ever die young or suffer for any reason. That’s naive, and, in any case, I personally don’t conceive of G-d as a guy up in the sky with a roll of dice (or a “good” and “bad” list, like Santa Claus). But I do think that the Unetane Tokef prayer points at the ways in which we are–as a collective–responsible for our own suffering or for preventing it, for impacting the degree to which evil besets us. Hier alles lesen

Rabbiner Reuven Hammer schreibt dazu:

But this is not a day of suffering without hope. No matter what one has done, says the poet, the severe decree?-the penalty of death?-can be averted. Indeed, one need only follow the advice of the Sages, “Three things cancel the decree, and they are prayer, charity, and repentance” (Genesis Rabba 44:12). This rabbinic teaching is not confined to Rosh Hashanah but speaks in general terms of what one must do to avert the consequences of sin. The poet has set it correctly in the context of the day of judgment, focusing on the ten?day period from the beginning of Rosh Hashanah until the end of Yom Kippur as a time when these three actions must be undertaken to change the outcome of the trial. von hier

Noch etwas zur Geschichte: Unetane Tokef. Es wurde im 11. Jahrhundert von Rabbi Kalonymus ben Meschullam bekannt gemacht und wird Rabbi Amnon von Mainz zugeschrieben. Er wurde vor die Wahl „Tod oder Taufe” gestellt und entschied sich für das erste. Er wurde gefoltert und kurz bevor er seinen tödlichen Verletzungen erlag, sprach er in der Synagoge eben dieses persönliche Gebet. Das Gebet kann als erfolgreich bezeichnet werden, denn es wurde auch durch die Sefardim übernommen.