Passender geht es gar nicht: Die Kommentare zu meinem Posting „Willkommen im Ruhrgebiet! Oder so…” entwickeln sich langsam zu einer Diskussion darüber, ob wir eigene russischsprachige Gemeinden brauchen oder nicht. Für meine Heimatgemeinde stellt sich die Frage nicht, hier wird nicht mehr Deutsch gesprochen, zu keiner Gelegenheit. Selbst die Vollversammlung ist ausschließlich in russischer Sprache. Baruch hSchem verstehe ich den größten Teil… Zurück zum Thema: Wieder habe ich es der judaismus-Gruppe von talmud.de zu verdanken, dass ich auf einen Artikel von Sergey Lagodinsky in der Süddeutschen Zeitung aufmerksam wurde (Samstag/Sonntag, 10./11. Juni 2006) (hier), der sich darüber beklagt, dass die Gemeindevertreter nicht die Mehrheit der Mitglieder vertreten. Nun wurde der Artikel in der aktuellen Ausgabe der „Jüdischen Zeitung” nochmals veröffentlicht und nun habe ich mein Posting aus der judaismus-Gruppe nochmals überarbeitet, so dass ich hier öffentlich auf den Artikel antworten kann:

Der Autor des Artikels besticht durch seine unschuldige Naivität, wenn er schreibt, niemand habe bei der Wahl des neuen Präsidenten des Zentralrats der Juden mit einem Wunder gerechnet und es sei auch keines eingetreten, die Gesichter seien die alten geblieben. Das ist ja auch tatsächlich kein Wunder, weil die Auswahlmöglichkeiten von vorneherein durch das Wahlverfahren begrenzt sind. Neue Gesichter kann man also nicht mal eben in die ZR-Spitze rufen: Das Direktorium setzt sich aus Vertretern der einzelnen Mitgliedsverbände bzw. Landesverbänden zusammen. Es überwacht die Tätigkeit des Präsidiums und wählt den Generalsekretär bzw. Geschäftsführer. Jeder Landesverband entsendet pro angefangene 5000 Gemeindemitglieder einen Vertreter. Das Direktorium wählt aus seiner Mitte sechs Mitglieder, die für die Dauer von vier Jahren dem Präsidium angehören. Das Präsidium führt die Geschäfte des Zentralrats. Es hat insgesamt neun Mitglieder und wählt aus seinen Reihen den Vorstand bestehend aus dem Präsidenten und zwei Vizepräsidenten, die den Zentralrat der Juden in der Öffentlichkeit vertreten. Der Generalsekretär führt die laufenden Geschäfte des Zentralrats und wird für fünf Jahre gewählt. Sogar das, kann man bis ins Detail auf der Homepage des Zentralrats nachlesen. Ferner fragt der Autor, was die Öffentlichkeit aus dem neuerlichen Wechsel an der Spitze lernt. Offen möchte ich antworten: Die „Öffentlichkeit" erfährt über das Judentum in Deutschland hier primär überhaupt nichts, da das Amt oftmals nach außen hin politisch aktiv war bzw. ist und über die inneren Zustände der Gemeinden in der Öffentlichkeit in der Regel nicht gesprochen wird. Dann schreibt er:

„Diese Krise resultiert aus einer für Kenner offensichtlichen Differenz: Eine Gemeinschaft, die zu 85 Prozent Russisch spricht, wird von einer Spitze verwaltet und vertreten, die weder die Sprache noch die Mentalität dieser Mehrheit versteht. Es ist erstaunlich, wie die jüdische Gemeinde in Deutschland, die sich ja seit eh und je als Avantgarde im Streben nach einer offenen deutschen Gesellschaft versteht, die Fehler der Mehrheitsgesellschaft unbewusst wiederholt. Auch in den jüdischen Gemeinden wird gegenüber Neuankömmlingen genau das propagiert, was so lange in der gesamtdeutschen Gesellschaft angeprangert wurde – das Primat einer „ Leitkultur" der Alteingesessenen gegenüber den ‚Fremden’.“

Unbestreitbar gibt es mancherorts eine wahnsinnige Angst davor, dass „die Russen" die Gemeinden übernehmen, auf der anderen Seite haben Vertreter dieser Mehrheit tatsächlich die Möglichkeit, sich in die Gemeinden und die Landesverbände wählen zu lassen; und so letztlich auch in den Zentralrat.

„Hingegen verstehen sich die „Russen" als ethnische, weniger als religiöse Juden. Ihre Beziehungen zu Israel sind stark, aber die zu ihren Herkunftsländern nicht weniger. Und der Holocaust ist für sie – obwohl sie einst die eigentlichen Zielscheiben von Hitlers Ausrottungspolitik waren – meist in den Kontext des „Großen Vaterländischen Krieges" der Sowjetunion eingebettet.“

Über das Selbstverständnis müsste man nochmal mit dem Autoren des Artikels reden. Es hat in der letzten Zeit immer wieder zu gravierenden Missverständnissen über die Aufgaben einer jüdischen Gemeinde geführt. Sie sind ja keine Kulturvereine, sondern sollen jüdisches Leben organisieren. Als ich die Aufsicht über die Vorstandswahlen in meiner Stadt hatte, tauchten lauter Leute auf, die nicht auf den Wahllisten standen und auch nicht als Gemeindemitglieder gezählt wurden. Die meisten von ihen waren „Zeugen" oder gehörten mittlerweile offiziell einer Freikirche an. Sie haben nicht verstanden, dass sie keine „Juden” mehr sind. Bevor wir möglicherweise darüber in eine halachische Diskussion einsteigen, füge ich noch ein paar Basics zu dieser Frage ein. Sie stammen nicht von mir. Sondern von Rabbiner Bentzion Kravitz. Im Buch der Könige, wird Elijah der Prophet ausgesandt, um Juden zu warnen, die einem fremden Gott mit Namen Baal dienen. In 1. Könige 18:21 sagt Elijah zu ihnen: „Wie lange wollt ihr auf zwei Ästen sitzen? Wenn der H-rr der G-tt ist, so folget ihm; wenn aber Baal, so folget ihm.“ Mit anderen Worten, du bist entweder ein Jude oder ein Diener von Baal; du kannst nicht beides sein. Die Geschichte endet damit, daß die Juden sich von ihrem Götzendienst abwenden und zum Judentum zurückkehren. Daraus ziehen wir eine wichtige Lehre. Ein Jude, der einer anderen Religion folgt, ist nur in dem Maße jüdisch als dass er eine spirituelle Verpflichtung behält, zu bereuen und zum Judentum zurückzukehren. Solange jedoch sein Glauben götzendienerisch und dem Judentum fremd ist, kann er sich selbst nicht einen Juden nennen. Die Bezeichnung „Messianischer Jude“ oder „Hebräischer Christ“ ist ein Widerspruch,

„Diese Juden denken und empfinden mithin anders. Aber auch sie fühlen sich als Juden, und haben sich immer als solche empfunden. Doch passen sie nicht zu dem leitkulturellen Bild der Juden in Deutschland, das die Gemeinden und die deutsche Mehrheitsgesellschaft im Laufe der Nachkriegszeit konstruiert haben.“

Die deutschen Gemeinden waren in erster Linie Schicksalsgemeinschaften und ein paar Gemeinden waren tatsächlich der Zusammenschluss gleichgesinnter Jüdinnen und Juden mit starken religiösen Bedürfnissen. Das ist unbestritten und auch vollkommen in Ordnung. Meiner Meinung nach ist das „Leitbild“ für die Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde die Halchah - ganz gleich ob man sie orthodox oder liberal auslegt.

Weiter heißt es „einer Minderheit den übrigen 85 Prozent der Juden in Deutschland aufzuzwingen, nur noch grotesk. Langfristig bedeuten solche Umerziehungsbemühungen, dass Menschen eher von den Gemeinden abgeschreckt werden, anstatt dass sie sich einbinden lassen.“

Mir ist gar nicht klar, was der Autor will und ob er begriffen hat, was eine jüdische Gemeinde leisten soll und kann. Die Gemeinden die funktionieren, pochen auf ihren „Wertekanon" und schaffen es dadurch die Menschen in die Gemeinde zu integrieren.

„In der Berichterstattung zur Wahl der neuen Präsidentin wurde wiederholt auf das Integrationsproblem hingewiesen. Bezogen auf die jüdischen Gemeinden ist „Integration" jedoch der falsche Begriff. Er lenkt nur ab von den eigentlichen Problemen – aus zweierlei Gründen. Gemeinde-intern kann man eine 85-prozentige Mehrheit von Zuwanderern schon rein logisch nicht in eine 15 Prozent starke ursprüngliche Gemeinde „integrieren". Statt das Integrationsmantra zu wiederholen, sollte man auf einen intensiven Dialog der Zuwanderungsmehrheit mit der herkömmlichen Minderheit setzen. Der muss auf einer Augenhöhe stattfinden und sich einen neuen Identitätskompromiss zum Ziel setzen.“

Was ich (persönlich) am problematischsten finde ist, dass die 85% sich hervorragend in die Mehrheitsgesellschaft integriert haben und dann wenig vom Judentum übrig bleibt. Der Autor scheint aus einer großen Gemeinde zu kommen. In meiner kleinen Gemeinde gefährdet der Assimilationsprozess den Fortbestand der jüdischen Gemeinde und das ist wahrhaftig sehr gefährlich.